Husein Kavazović (rechts) im vergangenen Sommer beim Gebet in Sarajevo.
Husein Kavazović (rechts) im vergangenen Sommer beim Gebet in Sarajevo.
EPA/FEHIM DEMIR

Der Grundkonflikt besteht weiter: Die einen wollen einen gemeinsamen Staat für alle Bürgerinnen und Bürger, die anderen wollen abgelöste Territorien schaffen, die nach ethnisch-religiösen Kriterien von einer nationalistischen Partei dominiert werden. Damit wollen diese nationalistischen Kräfte indirekt den Versuch der Zerstückelung von Bosnien und Herzegowina, welche im Krieg 1992 bis 1995 zu Massenmord und Vertreibung führte, fortsetzen. Der Kampf zwischen den beiden Konzepten bleibt in dem südosteuropäischen Staat auch deshalb aufrecht, weil die Internationale Gemeinschaft nicht klar Stellung bezieht und viele ihrer Vertreter aus EU und USA sowie der Hohe Repräsentant Christian Schmidt nicht die europäisch gesinnten Kräfte, sondern die Nationalisten unterstützen, vor allem die kroatischen Nationalisten.

Der Großmufti von Bosnien und Herzegowina, Reis-ul-ulema Kavazović, hat nun zu den beiden Konzepten "Bürgerstaat versus ethnonational aufgesplitterter Drei-Völker-Staat" Stellung bezogen. In Bosnien und Herzegowina werden die Angehörigen der drei "Völker" (Serben, Kroaten und Bosniaken) oft mit den Angehörigen von Religionen (Orthodoxie, Katholizismus und Islam) gleichgesetzt. Menschen, die nicht in dieses Drei-Völker-Konzept und die ihnen zugeordneten Territorien passen, werden durch die derzeitige Verfassung diskriminiert.

Gegen ethnische Segregation

Kavazović betont, dass ihm das Prinzip der "Gleichheit aller Menschen" wichtig sei. "Wir möchten, dass jeder Bürger von Bosnien und Herzegowina in jedem Teil seines Territoriums gleiche Rechte hat", spricht sich der Großmufti gegen eine weitere Teilung und Segregation aus. Kollektive Identitäten und Rechte, die respektiert werden sollten, könnten keine Rechtfertigung für Diskriminierung sein, erklärt er. "Heute haben wir leider eine Politik, die auf dem Streben nach der Vorherrschaft nur einer ethnischen Identität und Zugehörigkeit basiert und Teile von Bosnien und Herzegowina als ausschließliches Eigentum nur einer Nation anstrebt", führt er aus.

Die islamische Gemeinschaft wolle hingegen, dass europäische Werte und Bürgerrechte unter Achtung kollektiver Rechte und Besonderheiten nach Bosnien übertragen werden. Sie verfüge jedoch nicht über politische Macht und strebe diese auch nicht an. "Das ist Sache der Politiker. Wir bedauern, dass Europa in Bezug auf Bosnien und Herzegowina häufig seine erklärten Werte und Prinzipien aufgibt und versucht, Politiker für sich zu gewinnen, die offen eine andere Sicht auf die Welt und die Werte haben, auf die sie ihre Politik gründen", kritisiert Kavazović jedoch das Verhalten von Diplomaten im Lande.

"Wir haben das Gefühl, dass versucht wird, die Tatsache, dass der Völkermord in Bosnien keinen vollen Erfolg hatte und die Bosniaken, die sich größtenteils als Muslime identifizieren, immer noch einen erheblichen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen, durch Wahlmanipulation zu ersetzen, um den Wert der bosniakischen Stimmen im Vergleich zu anderen zu verringern", konkretisiert er seine Kritik.

Erinnerung an den Völkermord

Bei der Mehrheit der Muslime hinterlasse dies ein schlechtes Gefühl und verstärke die Angst, dass diejenigen, die den Völkermord überlebt haben, in ihrem Land nicht frei sein werden, dass Europa sie allein schon aufgrund ihres Namens und ihrer religiösen Gefühle nicht akzeptieren werde. Hintergrund: Der Hohe Repräsentant Christian Schmidt habe auf Wunsch der kroatischen Regierung und der nationalistisch-kroatischen HDZ im Jahr 2022 das Wahlgesetz am Wahlabend geändert, obwohl dies überhaupt nicht notwendig war.

Kavazović meint, dass man in Bosnien und Herzegowina in einem dysfunktionalen Staat lebe, der unter ständigen Blockaden stehe. Auch die Internationale Gemeinschaft habe keine Garantien für die Bosniaken, dass ein Völkermord wie in Srebrenica nicht noch einmal passieren werde. Der Großmufti verweist darauf, dass in Bosnien und Herzegowina, aber auch in der Nachbarschaft Politiker an der Macht seien, die Kriegsverbrechen verherrlichen, den Völkermord an den Muslimen im Jahr 1995 leugnen, ihren Hass auf alles Islamische und Muslimische nicht verbergen und offen verkünden, dass sie die im Krieg ethnisch gesäuberten Gebiete von Bosnien abtrennen werden. „Das alles bleibt ohne ernsthafte Reaktion", warnt er.

Muslimenfeindliche Propaganda

Der Großmufti kritisiert auch die muslimenfeindliche Propaganda auf dem Balkan, mit der beispielsweise behauptet werde, dass "Bosniaken oder Muslime jemanden 'majorisieren' und Menschen deren Rechte verweigern“ würden. Manche würden sogar behaupten, dass Bosniaken "von einem islamischen Staat als Teil einer Verschwörung der globalen Ummah träumen" würden. "Das sind dieselben Anschuldigungen, mit denen sie den Völkermord rechtfertigten und andere Massenmorde in den 1990er-Jahren", erklärt Kavazović.

Gefragt zu der nach wie vor grassierenden Denkströmung des Philetismus aus dem 19. Jahrhundert auf dem Balkan, einem Nationalismus als kirchenbestimmenden Faktor, meint der Großmufti: "Wir können mit Sicherheit sagen: Das ist fatal. Der Glaube, nicht ein religiöser Führer sollte das Korrektiv der Gesellschaft, ihres Gewissens sein, und nicht ein Instrument der Regierung." Leider seien Religionsgemeinschaften und kirchliche Institutionen nicht immer auf der Ebene ihrer Mission. "Es ist für uns von größter Bedeutung, diejenigen Kräfte in unseren Gesellschaften zu stärken, die Religion nicht als Hindernis für das Zusammenleben oder als Instrument zur Herrschaft über Menschen betrachten. Gleichzeitig liegt es an uns, zahlreiche Vorurteile gegenüber der Religiosität und insbesondere dem Islam abzubauen, die diese Prozesse belasten und die Heilung der Gesellschaft verzögern“, meint er zum STANDARD. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, 5.1.2023)