Ein Flüchtlingslager im Gaza-Streifen an der ägyptischen Grenze.
Ein Flüchtlingslager im Gazastreifen an der ägyptischen Grenze.
REUTERS/IBRAHEEM ABU MUSTAFA

Eine massenhafte Vertreibung der Palästinenser aus dem Gazastreifen und eine Besiedlung durch Israelis sei "das Gebot der Stunde", sagte Israels Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, am Sonntag. Die Idee einer jüdischen Besiedlung des Gazastreifens sorgt bei Israels Verbündeten für Befremdung, zugleich wird sie in Israel von Teilen der Regierung immer öfter aufs Tapet gebracht.

Wer von jüdischen Siedlungen in Gaza spricht, spielt auf der emotionalen Klaviatur vieler Israelis. Er ruft eine kollektive Erinnerung wach, die von vielen Rechtsgesinnten in Israel als traumatisch bezeichnet wird: die Räumung der Siedlungen im Gazastreifen im Jahr 2005 – von manchen in Israel auch "die Massenvertreibung" genannt. Binnen acht Tagen wurden damals rund neuntausend Israelis aus ihren Häusern in den 21 Siedlungen im Gazastreifen evakuiert, die Siedlungen wurden mit Bulldozern zerstört.

Handfeste militärische Gründe

Der konservative Ministerpräsident Ariel Sharon hatte den Plan eines freiwilligen Abzugs Israels aus dem Gazastreifen entwickelt und umgesetzt. Unter rechten Israelis bildete sich damals eine Protestbewegung, die auch zu gewaltsamen Mitteln griff, um ihren Widerstand gegen den Abzug zu demonstrieren. Einige der heutigen Verfechter und Verfechterinnen der Wiederbesiedlung Gazas gehörten dieser Bewegung an. Sie verklären die 21 Siedlungen, die in Israel Gush Katif – wörtlich "Ernteblock" – genannt werden, als Inbegriff des national-zionistischen Traums und stellen sich als Vorkämpfer für die Verwirklichung dieses Traums dar.

In Wirklichkeit hatte der Abzug aus dem Gazastreifen vor allem handfeste militärische Gründe. Sharons Kabinett sah es langfristig als teuer, ineffizient und gefährlich an, die Siedlungen in Gaza weiter aufrechtzuerhalten und mit viel militärischer Präsenz zu bewachen. Man beschloss, sich auf die Siedlungen im Westjordanland zu konzentrieren, die anders als der periphere Gush Katif gut an die Hauptstadt Jerusalem angebunden sind.

Juristische Verantwortung

Schon jetzt hat Israels Armee jede Menge zu tun, um die Siedlungen und die stetig anwachsende Anzahl neuer illegaler Outposts zu bewachen. Beim Überfall der Hamas am 7. Oktober zeigte sich, dass das für die Menschen in Israel zum Bumerang werden kann: Anstatt die Kibbuzim im Süden vor den Terrorgruppen zu beschützen, waren wichtige Armeeeinheiten im Westjordanland stationiert. Eine Wiederbesetzung des Gazastreifens würde dieses Problem noch verschärfen, zudem würde sie Israels diplomatische Beziehungen schwer belasten.

Massenvertreibungen im Gazastreifen wären nicht nur ethisch problematisch, sondern auch juristisch als Kriegsverbrechen zu werten. Schon jetzt muss sich Israel wegen des anhaltenden Beschusses und der Blockade des Gazastreifens juristisch verantworten. Südafrika hatte beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Sachverhaltsdarstellung eingebracht, in der Israel das Verbrechen des Völkermords vorgeworfen wird. In dem Schreiben argumentiert die Regierung in Pretoria, dass Israels Kriegshandlungen den Tod "eines substanziellen Teils der Bevölkerung" in Gaza zur Folge haben. Israel weist das vehement zurück. Auch die USA haben sich zu der Causa negativ geäußert: Die Anschuldigungen seien "kontraproduktiv und entbehren jeder Grundlage", sagte ein Sprecher des Weißen Hauses.

Offener Protest wird stärker

Sollte das Tribunal sich von den Argumenten Südafrikas überzeugen lassen, könnte es eine sofortige Einstellung der Kampfhandlungen verordnen. Effektiv durchsetzbar wäre eine solche Anordnung aber nicht.

Auch in Israel regt sich immer mehr offener Protest gegen die Rufe nach ethnischer Säuberung, Massenvernichtung und Okkupation im Gazastreifen. Ein Komitee prominenter Israelis, darunter ehemalige Knesset-Abgeordnete, Diplomaten und Generäle, hat nun die Generalstaatsanwaltschaft in Jerusalem aufgerufen, Politiker wie Ben-Gvir wegen Aufrufs zur Begehung einer Straftat zu verfolgen. In dem Aufruf findet sich eine detaillierte Auflistung getätigter Aussagen. Das Schreiben könnte auch im aktuellen Verfahren in Den Haag Berücksichtigung finden. (Maria Sterkl aus Jerusalem, 9.1.2024)