An Taiwans Nationalfeiertag finden in Taipeh Militärparaden statt.
EPA/RITCHIE B. TONGO

Die Aussichten für William Lai Ching-te sind gut. Der Spitzenkandidat der auf Taiwan regierenden Democratic Progressive Party (DPP) führt seit Wochen die Umfragen für die Präsidentschaftswahlen an. Sein Herausforderer Hou Yu-ih von der Kuomintang (KMT) kann zwar immer wieder aufholen, doch Beobachter rechnen mit einem Sieg des Peking-kritischen DPP-Kandidaten am Samstag. Egal wer gewinnt - mit Spannung wird Pekings Reaktion erwartet. Denn Chinas Präsident Xi Jinping betont immer wieder, dass die Insel früher oder später an das Festland angegliedert werde. Warum eine Eskalation um Taiwan die Welt verändern würde, erklärt der STANDARD im Folgenden.

Frage: Warum ist eine kleine Insel am Rande des Ostchinesischen Meers so wichtig?

Antwort: Nicht einmal so groß wie die Schweiz, rund 23 Millionen Einwohner – und trotzdem zieht Taiwan regelmäßig weltweites Interesse auf sich. Das hat mehrere Gründe, ein wichtiger ist Taiwans Chip-Industrie: Die Insel beheimatet den mit Abstand weltgrößten Mikrochip-Produzenten TSMC, der satte 92 Prozent aller hochentwickelten Computerchips für den Weltmarkt herstellt. Außerdem liegt Taiwan geopolitisch äußerst günstig. Durch die Meeresstraße von Taiwan und das Südchinesische Meer fährt ein Großteil des weltweiten Schiffsverkehrs. Ein Konflikt um die Insel würde globale Lieferketten massiv beeinträchtigen.

Geostrategisch liegt die Insel zudem im Mittelpunkt kollidierender Interessen der Großmächte USA und China. Die USA sehen in Taiwan einen wichtigen Knotenpunkt in der "First island chain". Entlang dieser Inselkette, von Borneo bis nach Südkorea, wollen die USA mithilfe von Militärbasen und Verbündeten Kontrolle über den Pazifik absichern. Das macht die USA zur wichtigen Schutzmacht Taiwans: Ein Angriff Chinas auf Taiwan bedeutet immer auch einen Konflikt zwischen Peking und Washington – auch wenn Washington immer wieder vage bleibt, in welcher Form genau man im Fall der Fälle eingreifen würde.

Frage: Steht Peking tatsächlich davor, Taiwan anzugreifen?

Antwort: Taiwan gehört zweifelsohne zu den fragilsten Konfliktzonen weltweit. Eine Vereinigung mit dem Festland sei "unvermeidlich", sagte Xi jüngst. Dabei muss es auch gar nicht zu einer vollen Invasion kommen. Schon eine Blockade der Insel wäre verheerend. Und schon jetzt hält Peking mit sogenannten "Grauzonentaktiken" die Insel ständig auf Trab. Beinahe täglich fliegen chinesische Kampfjets in die Luftraumüberwachungszone, schon lange überqueren diese auch die Mittellinie, also die lange funktionierende de-facto-Grenze.

Video: Wahl in Taiwan – darum geht es im Konflikt mit China.
AFP

Frage: Warum beansprucht Peking nochmal Taiwan?

Antwort: Der Konflikt geht auf den chinesischen Bürgerkrieg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück. Nachdem der chinesische Kaiser 1911 abdanken musste, stritten sich Revolutionäre um die Herrschaft über China. Da war Mao Zedong mit den Kommunisten auf der einen Seite und Chiang Kai-shek mit seinen Nationalisten (Kuomintang) auf der anderen. 1949 ging Mao siegreich hervor. Chiang zog sich nach Taiwan zurück, das Japan bis dahin als Kolonie kontrolliert hatte. Doch unter US-Druck musste das im Zweiten Weltkrieg besiegte Japan Taiwan an Chiang abtreten.

Frage: Das heißt, die USA waren schon immer in den Konflikt involviert?

Antwort: Washington stärkte schon damals Chiang den Rücken, weil es Taiwan als regionales Bollwerk gegen den Kommunismus verteidigen wollte. Ende der 1940er-Jahre hatten sich die USA beinahe von Taiwan abgewandt, doch der Ausbruch des Koreakriegs führte 1950 zum Umdenken. Durch die US-China-Annäherung ab den 1970ern verlor Taiwan allerdings sukzessive diese unbedingte Unterstützung. Die USA haben sich danach bloß freiwillig dazu bekannt, Taiwan militärisch zu versorgen. In den 1970ern musste Taipeh auch seinen Uno-Sitz an Peking abtreten.

Frage: Und wie wirkt sich das heute aus?

Antwort: 1992 einigten sich die damals auf Taiwan regierende KMT mit Peking auf einen Konsens, der festlegt, dass es nur ein China gibt; wer es rechtmäßig regiert, blieb offen. Daraus resultiert auch Pekings strenge Linie, dass Länder nur mit einem der zwei, Peking oder Taipeh, diplomatische Kontakte pflegen dürfen. Offiziell hat Taiwan heutzutage nur noch 13 diplomatische Verbündete. Die Insel pflegt aber enge wirtschaftliche und kulturelle Kontakte über de-facto-Botschaften, auch mit Österreich.

Fragen um eine eigene taiwanische Identität haben sich vor allem verstärkt, seitdem die progressive DPP im Jahr 2000 erstmals an die Macht kam. Die Partei war in Opposition zur lange diktatorisch regierenden KMT gegründet worden. Für viele junge Taiwaner und Taiwanerinnen ist die Idee eines formal unabhängigen Taiwans heute gut und gerne vorstellbar. Für Peking ist das aber eine absolut rote Linie.

Frage: Wie stehen die wahlwerbenden Parteien zu "Taiwan"?

Antwort: Trotz sehr unterschiedlicher Biografien sind die offiziellen Standpunkte der Parteien zur China-Politik gar nicht so weit voneinander entfernt, wie man meinen könnte. Sowohl die DPP als auch die KMT betonen, den Status quo beibehalten zu wollen. Die DPP vertritt die Ansicht, dass Taiwan de facto bereits unabhängig ist. Die KMT setzt ihrerseits auf "pragmatischen Dialog" mit Peking. Peking sieht in der DPP allerdings "Separatisten".

Frage: Macht ein DPP-Sieg einen Angriff Pekings wahrscheinlicher?

Antwort: Ein Sieg der DPP wird die Spannungen zwischen Taipeh und Peking bestimmt nicht abbauen. Gleichzeitig liegt Frieden in Taiwan auch im Interesse Pekings – nicht zuletzt aufgrund von Taiwans Chipindustrie. So meinen manche, dass das Chip-Unternehmen TSMC vor einer Invasion schütze, weil Peking selbst davon abhängig ist. Mit SMIC hat China zwar einen eigenen großen Chip-Hersteller. Bei der Produktion von High-End-Chips hinkt die Volksrepublik aber hinterher. Intel in den USA, Samsung in Südkorea und vor allem TSMC in Taiwan sind China hier voraus.

Frage: Wie bereiten sich Länder auf eine mögliche Eskalation vor?

Antwort: In Bezug auf Mikrochips versuchen die USA und Europa, China davon abzuhalten, die eigene Chip-Produktion auszubauen, mithilfe von Handelsschranken auf Komponenten etwa. Gleichzeitig wollen die Länder selbst unabhängiger vom Standort Taiwan werden. So ist man darum bemüht, die Produktion nachhause zu holen: TSMC hat vor kurzem sein erstes Werk in den USA gebaut. Dafür mussten die USA große Zugeständnisse machen. Mit dem Chips-Act unterschrieb Joe Biden eines der größten staatlichen Förderprogramme seit dem Apollo-Programm. Auch Europa bemüht sich um eigene TSMC-Werke, ein geplanter Standort ist Dresden. Die Verhandlungen laufen seit geraumer Zeit, allerdings schleppend.

Frage: Und wie schauen Vorbereitungen abseits von Chips aus?

Antwort: Die USA haben ihre Rüstungsverkäufe an Taiwan in den vergangenen Jahren sukzessive erhöht. Das Land bastelt außerdem an diversen Allianzen in der Region, um China davor abzuschrecken, tatsächlich anzugreifen. Mit den Philippinen wurden alte Sicherheitspakte erneuert. Und auch in Japan zeigt man verstärkt Präsenz. Als stiller Bündnisschmied in der Region nimmt Japan selbst aktiv an von den USA geführten Sicherheitsbündnissen wie der "Quad" oder "Aukus" teil.

Frage: Und wie verhält sich Europa?

Antwort: In Europa ist die China-Skepsis in den vergangenen Jahren gewachsen. Die Invasion der Ukraine hat die Frage über einen Taiwan-Angriff noch dringlicher gemacht. So hat Italien zum Beispiel seine Teilnahme an Chinas Neuer Seidenstraße gekündigt, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen fand im vergangenen Jahr ungewöhnlich kritische Worte Richtung Peking. Mit Tschechien oder Litauen hat Taiwan besonders freundliche Partner in Europa gefunden. Gleichzeitig ist man in Europa vorsichtig, Beziehungen zu Peking nicht nachhaltig zu schädigen. Denn für Europas Wirtschaft, allen voran für die deutsche, steht zu viel auf dem Spiel.