Soldaten vor dem TV-Sender TC Guayaquil
Ein TV-Sender als Bühne für die Machenschaften der ecuadorianischen Drogenmafia.
AFP/MARCOS PIN

"Die Polizei soll gehen!", fleht der Nachrichtensprecher von TC Guayaquil und faltet die Hände vor der Brust. Ein maskierter Mann zielt mit einem Gewehr auf seinen Hals. Im Hintergrund fallen Schüsse, man hört Schreie, bewaffnete Männer wedeln mit Molotowcocktails vor den Kameras. Dann bringen sie Mitarbeiter des Senders ins Nachrichtenstudio und zwingen sie, sich in einer Reihe auf den Boden zu setzen. Alles wird live übertragen im größten Kanal der ecuadorianischen Hafenstadt Guayaquil am Dienstagnachmittag (Ortszeit). Anfangs wird nicht so recht klar, was die Maskierten wollen. Andere Medien berichten, sie würden von der Regierung die Aufhebung des tags zuvor verhängten Ausnahmezustands fordern sowie einen Stopp der Verlegung von Schwerverbrechern in ein Hochsicherheitsgefängnis.

Auch ein Krankenhaus, einige Einkaufszentren und die Universität werden von bewaffneten Kriminellen gestürmt, die um sich schießen und Autos in Brand setzen. In anderen Provinzen explodieren Bomben, brechen Gefangene aus, werden Polizisten entführt und 125 Gefängniswärter als Geiseln genommen. Insgesamt sind bei den Vorfällen acht Menschen ums Leben gekommen. Zwei Menschen seien verletzt worden, darunter ein Polizist, der Schusswunden davongetragen habe, teilte die Polizei am Dienstagabend auf einer Pressekonferenz mit. Es habe mehr als 20 Vorfälle in der Hafenstadt gegeben, hieß es. Insgesamt seien mehr als 600 Notrufe eingegangen. Das Land scheint im Chaos zu versinken.

Keine Stunde später verhängt Präsident Daniel Noboa den Kriegszustand, suspendiert den Unterricht und befiehlt der Armee, die "Terroristen zu neutralisieren". Das einst friedliche Andenland ist im Schockzustand. Auf X (vormals Twitter) fordern aufgebrachte User, mit den Kriminellen kurzen Prozess zu machen. Andere warnen vor dem Kriegszustand: Noboa gebe der Armee damit freie Hand, doch diese sei vom organisierten Verbrechen infiltriert und habe ihre eigene Agenda, warnt etwa Jus-Professor David Cordero Heredia.

Video: Bandengewalt in Ecuador eskaliert - Geiselnahme während Live-Sendung.
AFP

Nagelprobe für Neopräsident

Einige Stunden später gelingt es der Polizei, die Mitarbeiter des Senders zu befreien und die Banditen festzunehmen. Die Fernsehkameras zeigen die Gesichter von jungen Männern, fast noch Kindern, in Jeans, Sportjacken und T-Shirts.

Die Anschlagswelle ist die erste Nagelprobe des neuen, erst 35-jährigen Staatschefs, der seit Ende November im Amt ist. Einer seiner Rivalen wurde im Wahlkampf ermordet. In den vergangenen drei Jahren schnellte in Ecuador die Mordrate um 800 Prozent in die Höhe; mittlerweile ist sie mit 46 Morden pro 100.000 Einwohner so hoch wie in keinem anderen Land Lateinamerikas. 2023 wurden 220 Tonnen Drogen sichergestellt.

Kommentatoren vermuten, dass die gefährlichste Bande des Landes, die Choneros, hinter der Eskalation steckt. Die Choneros sind ein lokaler Arm des mexikanischen Sinaloa-Drogenkartells. Am Sonntag hatten die Behörden festgestellt, dass Adolfo Macías – genannt Fito, ein Anführer der Bande – offenbar unbemerkt aus dem Gefängnis entkommen war.

Kampf gegen "Narco-Terroristen"

Präsident Noboa hat seit seinem Amtsantritt Ende November die Sicherheit zum Hauptthema gemacht. Mitte Dezember wurden 29 Schlüsselfiguren der Mafia festgenommen, darunter Richter, Anwälte und Polizisten. Anfang Jänner gelang in einer grenzüberschreitenden Operation die Zerschlagung eines kolumbianisch-ecuadorianischen Schmugglerrings. Am Montag verhängte Noboa eine Ausgangssperre und mobilisierte das Militär, um die Straßen zu patrouillieren und die Kontrolle der Gefängnisse zu übernehmen. "Wir lassen uns nicht von Narco-Terroristen auf der Nase herumtanzen", hatte der Staatschef erklärt. Experten zufolge kontrollieren Kriminelle mehr als ein Drittel der ecuadorianischen Gefängnisse. Die Gefängnisdirektoren sind geschmiert, die Wärter eingeschüchtert.

Erst seit Ende November ist Daniel Noboa Ecuadors Präsident.
Erst seit Ende November ist Daniel Noboa Ecuadors Präsident.
IMAGO/ROLANDO ENRIQUEZ

Fito, ein markant bärtiger Mann, gilt als gefährlicher und brutaler Pate. Er war im Jahr 2011 zu 34 Jahren Haft verurteilt worden. Doch die Haft nutzte er, um sein Drogenimperium noch weiter auszubauen. Das Megagefängnis in Guayaquil, in dem über 12.000 Häftlinge einsitzen, wurde zu seiner Operationsbasis. Er soll im Jahr 2021 Gefängnisaufstände im ganzen Land angezettelt haben, bei denen 79 Insassen starben. Es handelte sich Medienberichten zufolge vor allem um Angehörige verfeindeter krimineller Gruppen, die vermeintlich ein Attentat auf Fito geplant hatten. Dieser Tage wollte ihn die Regierung in ein Hochsicherheitsgefängnis verlegen. Davon hatte er offenbar Wind bekommen – und türmte.

Wichtige Drogenroute

In den vergangenen Jahren hat sich Ecuador zum wichtigen Drogenumschlagplatz entwickelt. Über die Exporthäfen am Pazifik wird vor allem Kokain aus Kolumbien und Peru in die USA und nach Europa geschmuggelt. Die Banden schüchtern die Bevölkerung ein, und sie rekrutieren sogar 13-Jährige. Teile der Polizei, des Militärs und der Hafenbehörden sind geschmiert.

Adolfo Macías, genannt
Adolfo Macías, genannt Fito (Archivbild August 2023): Der Anführer der Choneros-Bande konnte unbemerkt aus dem Gefängnis entkommen.
AFP/Ecuadorean Armed Forces/-

Die Drogen werden in doppelten Containerböden, Bananenkisten, Holzpaletten und Kakao versteckt. Europa ist wegen der höheren Preise für Kokain ein besonders lukrativer Absatzmarkt. Eine wichtige Route führt in niederländische Häfen; sie ist Ermittlern zufolge in der Hand albanischer und nordafrikanischer Kartelle. 2021 wurde in Amsterdam der Investigativjournalist Peter de Vries erschossen, der zum Kokainschmuggel recherchiert hatte. (Sandra Weiss, red, 10.1.2024)