Das Richtergremium in seiner Zusammensetzung bei der Klage gegen Russland im September 2023. Die US-Amerikanerin Joan Donoghue, Zweite von rechts, ist die amtierende Präsidentin.
AP/Peter Dejong

Am Donnerstag und Freitag befasst sich der Internationale Gerichtshof (IGH) auf Ansuchen Südafrikas mit Israel. Die Regierung Südafrikas beschuldigt Israel, seine Militäraktionen gegen die Hamas im Gazastreifen habe einen "genozidalen Charakter", und fordert den Erlass "sofortiger Maßnahmen" durch den IGH, um die israelische Militäroperation in Gaza zu beenden. Grundlage für das Verfahren ist die sogenannte UN-Völkermordkonvention von 1948, die eine Reaktion auf den Holocaust war.

Frage: Südafrika wirft Israel vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag den Verstoß gegen die Völkermordkonvention vor. Am Donnerstag beginnen die Anhörungen in Den Haag. Worum geht es genau?

Antwort: In seinem 84-seitigen Antrag behauptet Südafrika, dass Israel durch die Tötung von Palästinensern und Palästinenserinnen im Gazastreifen, die Verursachung schwerer psychischer und körperlicher Schäden und die Schaffung von Lebensbedingungen, die auf physische Zerstörung abzielen, Völkermord an den Palästinensern begehe. Südafrika wirft Israel vor, es verabsäumt zu haben, den Menschen im Gazastreifen während des Kriegs lebenswichtige Nahrungsmittel, Wasser, Medikamente, Treibstoff, Unterkünfte und andere humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Der Antrag Südafrikas verweist auch auf die anhaltenden Luftangriffe, die einen Großteil des Gazastreifens verwüstet, die Evakuierung von etwa 1,9 Millionen Palästinensern erzwungen und nach Angaben des Gesundheitsministeriums des Gazastreifens über 23.000 Menschen getötet haben. Die Zahlen der Behörde unterscheiden nicht zwischen Zivilisten und Kämpfern und lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Fachleute gehen aber eher von einer Unter- als einer Überschätzung der Opferzahlen aus.

Video: Darum geht es beim Völkermord-Verfahren gegen Israel.
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Frage: Was ist die Völkermordkonvention?

Antwort: Die Völkermordkonvention ist ein Vertrag zwischen Staaten, der drei Verpflichtungen vorsieht: Die unterzeichnenden Staaten dürfen keinen Völkermord begehen. Sie müssen Personen, die sich womöglich des Völkermords strafbar gemacht haben, bestrafen. Und sie sind dazu verpflichtet, drohende Völkermordhandlungen von vornherein zu verhindern. Der Vertrag definiert Völkermord als "Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten". Sowohl Südafrika als auch Israel sind Unterzeichner der Völkermordkonvention von 1948, die dem IGH die Zuständigkeit für die Entscheidung von Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Vertrag verleiht.

Frage: Was sagen Völkerrechtsexperten? Ist es rechtlich gesehen Völkermord?

Antwort: Das Schlüsselwort in der Definition ist die "Absicht" hinter den Taten. Es muss also ein klarer politischer Wille des Staates Israel dahinterstehen. Die Beweisführung dazu ist natürlich prinzipiell nicht einfach. In ähnlichen Fällen sind oft Stellungnahmen wichtig, die etwa Soldaten, Militärführer oder Machthaber abgegeben haben.

Frage: Hat Südafrika solche Stellungnahmen?

Antwort: Südafrika gibt eine ganze Reihe von Stellungnahmen israelischer Politiker wieder, die zu extremen Maßnahmen gegen Palästinenser aufrufen. Etwa sagte Premierminister Benjamin Netanjahu bereits am 7. Oktober, dass die Bewohner des Gazastreifens einen "hohen Preis" für den Anschlag der Hamas zahlen würden. Ende Oktober fügte er eine biblische Referenz hinzu: "Ihr müsst euch daran erinnern, was Amalek euch angetan hat." In dieser Bibelstelle gebietet Gott dem Volk Israel, die Amalekiter auszurotten, "Männer und Frauen, Säuglinge und Kleinkinder gleichermaßen zu töten". Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte an, dass die Armee im Krieg gegen die Hamas gegen "menschliche Tiere" kämpfe und "dementsprechend" handeln werde. Das solche und ähnliche Aussagen vorliegen, heißt jedoch nicht, dass Südafrika mit seinem Ansinnen durchdringen wird.

Frage: Die Anhörungen finden am Donnerstag und Freitag statt. Wird am Freitag dann schon ein Urteil fallen?

Antwort: Nein. Am Donnerstag und Freitag geht es um den sogenannten einstweiligen Rechtsschutz, was eine Art Antrag auf Sofortmaßnahmen ist, bis das Verfahren, das mehrere Jahre dauern kann, beendet ist. Zuerst entscheidet das Gericht aber, ob es überhaupt zuständig ist. Vorläufige Maßnahmen sind als eine Art einstweilige Verfügung gedacht, um eine Verschärfung des Konflikts zu verhindern, während sich das Gericht ausführlich mit dem Fall befasst.

Bei einstweiligen Maßnahmen muss das Gericht nur entscheiden, ob es auf den ersten Blick (prima facie) zuständig wäre und die beanstandeten Handlungen in den Anwendungsbereich des Völkermordvertrags fallen. Südafrika muss plausibel machen, dass Israels Militäraktionen tatsächlich das Risiko von Völkermordhandlungen in sich bergen. Die Maßnahmen, die das Gericht beschließt, müssen nicht zwangsläufig den Anträgen des Beschwerdeführers entsprechen. Südafrika hat das Gericht ersucht, Israel anzuweisen, seine Militäraktionen im Gazastreifen auszusetzen.

Frage: Was darf der Internationale Gerichtshof? Muss sich Israel an Entscheidungen dieses Uno-Gremiums halten?

Antwort: Völkerrechtlich sind die Entscheidungen des IGH im Prinzip verbindlich, seine Urteile können nicht angefochten werden. Der IGH hat aber auch keine Möglichkeit, sie durchzusetzen. Ein Urteil gegen Israel könnte jedenfalls dessen internationalem Ruf schaden und einen Präzedenzfall schaffen. Sicherlich würde auch der Druck von Verbündeten, wie etwa den USA, zunehmen, wenn Israel sich einfach weigern würde, eine IGH-Anordnung umzusetzen.

Frage: Wie reagiert Israel auf die Vorwürfe?

Antwort: Auch Israel darf und wird ausführlich seine Sicht der Dinge darlegen, das Land weist die Vorwürfe zurück. Israel bezeichnete die Klage als unbegründet und antisemitisch motiviert. Der israelische Staatspräsident Yitzhak Herzog sagte am Dienstag zum Vorwurf des Völkermords: "Es gibt nichts Schlimmeres und Absurderes als diese Behauptung." Vielmehr sei es die islamistische Hamas, die zur Auslöschung des Staates Israel aufrufe.

Israels Militär beschreibt seine Einsätze in Gaza als gezielte Angriffe gegen die Terrorinfrastruktur der radikalislamischen Hamas-Miliz, die am 7. Oktober 2023 die israelische Zivilbevölkerung angegriffen hat. Bei dem Terrorangriff und an den folgenden Tagen wurden rund 1.200 Menschen getötet. Mindestens 240 Menschen wurden von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt.

Frage: Wer sind die Richterinnen und Richter, die darüber entscheiden werden, und hat Israel eine Verteidigung?

Antwort: Am Sonntag teilte die israelische Regierung mit, dass unter anderem der frühere Höchstrichter und Holocaust-Überlebende Aharon Barak nach Den Haag reisen werde. Er soll Teil des 15-köpfigen Richtergremiums werden, in dem beide Streitparteien vertreten sein dürfen. Der 87-Jährige gilt als scharfer Kritiker der umstrittenen Justizreform, die von der Regierung unter Premier Benjamin Netanjahu im Vorjahr durchgeboxt wurde. Aktuell ist die US-Amerikanerin Joan Donoghue Präsidentin, Vizepräsident ist der Russe Kirill Geworgjan.

Anwaltlich wird Israel durch den Briten und Experten für internationales Recht, Professor Malcolm Shaw, vertreten. Shaw hat Erfahrung mit ähnlichen Verfahren und war in der Vergangenheit bereits als Anwalt vor dem höchsten UN-Gericht im Einsatz. Israelische Vertreter wollen zudem eine gekürzte Fassung der Videozusammenschnitte der Geschehnisse des 7. Oktober zeigen. (mhe, maa, Reuters, 10.1.2024)