Eine ältere Frau überquert mit einem Rollator eine Straße.
Wenn Ältere sich noch allein versorgen können, ist das gut. Wird das unmöglich, kann ein Fall für das Strafrecht daraus werden.
APA / Monika Skolimowska

Wien – Die Leiche der 94-jährigen Frau T. muss am 1. November 2022 schlimm ausgesehen haben, folgt man dem Gutachten des gerichtsmedizinischen Sachverständigen Wolfgang Denk. Vor dem Schöffensenat unter Vorsitz von Matthias Funk spricht er von "Aufliegegeschwüren auf der rechten Körperseite", "krallenartigen Zehennägel" und Befall durch Fliegenmaden. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft Wien trägt Herr V. die Schuld an diesem Zustand. Der unbescholtene 47-Jährige soll seine Großmutter "gröblich vernachlässigt" und so ihren Tod verursacht haben, wofür ihm zwischen einem und zehn Jahre Gefängnis drohen.

Das Seltsame an diesem Fall: Der Angeklagte lebte nicht in der Wohnung der Großmutter, das tat seit 27 Jahren seine Schwester. "In all diesen Jahren gab es keinen einzigen Polizeieinsatz, keinen einzigen Rettungseinsatz, keinen Feuerwehreinsatz", referiert Verteidiger Alfred Krenn ruhig in seinem Eröffnungsplädoyer. Sein Mandant habe gelegentlich mit den beiden Verwandten telefoniert, habe ihnen alle ein, zwei Wochen die Einkäufe gebracht, das Verhältnis sei nicht schlecht gewesen.

"Und dann kam Corona!", erinnert Krenn an die Folgen der Pandemie. Weder die Schwester noch die Mutter wollten sich gegen Sars-CoV-2 impfen lassen, um eine Infektion der betagten Hochrisikopatientin zu vermeiden, stellten V. und seine Gattin die Besorgungen daher vor der Wohnungstüre ab oder gingen nur kurz hinein, um den Kühlschrank zu füllen, und verlegten sich auf telefonischen Kontakt. Das letzte Mal geschah das zwei Tage vor dem Tod von Frau T., als er ohnehin in der Nähe der Wohnung war. "Ich habe angerufen und meine Schwester gefragt, wie es ihr geht und ob sie außertourlich etwas brauchen. Sie hat gesagt, es ist alles okay. Mit der Oma habe ich auch kurz gesprochen, sie war völlig normal", erinnert sich der Angeklagte vor Gericht.

Tagelang am Boden gelegen

Wie Sachverständiger Denk aufgrund des körperlichen Zustands weiß, war es die Situation nicht mehr. Denn zum Zeitpunkt des Telefonats muss die 94-Jährige nach einem Sturz schon mehrere Tage bewegungsunfähig am Boden gelegen sein. Ihre Enkelin, die Schwester des Angeklagten, muss sie zwar mit Wasser und Essen versorgt haben, da sie gut genährt war, Hilfe holte sie aber keine.

Am 31. Oktober 2022 brachte Herr V. wieder wie üblich die Einkäufe – und sah seine Großmutter zugedeckt regungslos auf dem Boden neben der Wohnzimmercouch liegen. "Sie war nicht mehr ansprechbar, als ich versucht habe, sie auf die Couch zu legen, hat sie sich aber ein wenig gewehrt", erinnert sich der Angeklagte. "Dann habe ich meiner Schwester gesagt, sie soll schnell die Rettung anrufen, das hat sie auch gemacht." – "Warum haben Sie nicht gewartet, bis die Rettung gekommen ist?", will Vorsitzender Funk wissen. "Ich stand unter Schock und verließ die Wohnung." – "Warum standen Sie unter Schock?" – "Weil ich die gleiche Situation schon bei meinem Vater erlebt habe", sagt Herr V. und ist dabei den Tränen nahe. "Eine traumatische Erinnerung?", fragt Funk. "Ja", lautet die Antwort. Er habe auch so stark gezittert, dass er nicht selbst den Notruf alarmieren konnte.

V. beteuert auch, dass er während der Pandemie mit dem Fonds Soziales Wien gesprochen habe, um Betreuung und ärztliche Unterstützung für seine Großmutter zu organisieren. Die habe das aber stets strikt abgelehnt und entschieden, dass sie keine fremden Menschen in ihre Wohnung lasse. Geklagt habe die Greisin nie, "sie war aber auch nicht sehr gesprächig", schildert der Angeklagte. Auf der Couch sei Frau T. immer zugedeckt gewesen, egal ob sie gesessen oder gelegen sei. Mobil sei sie aber bis zum Schluss gewesen, 2022 hatte er ihr noch den Rollator seines verstorbenen Vaters gebracht, damit habe sie auch selbstständig das WC aufsuchen können.

Großmutter als Matriarchin

Die Schwiegermutter und die Gattin bestätigen als Zeuginnen, dass die Großmutter und die Schwester des Angeklagten zuletzt eher abgeschottet gelebt hätten. Die Ältere sei aber die Matriarchin der Familie gewesen: "Sie war eine eigene Person mit einem eigenen Kopf", sagt die Schwieger- über die Großmutter. Zur Schwester meint sie: "Die ist ein eigener Fall. Sie war immer sehr verschlossen und wie die Omi stur." Warum die Großmutter bei dem Telefonat zwei Tage vor ihrer Auffindung nicht um Hilfe gebeten hat, weiß keines der Familienmitglieder. Herr V. mutmaßt, dass sie nicht mehr leben wollte, seine Schwiegermutter hat eine andere Theorie: "Vielleicht wollte sie ihn nicht belasten, vielleicht hat sie sich geschämt?"

Der medizinische Sachverständige Denk will jedenfalls nicht ausschließen, dass Frau T. zwei Tage vor ihrem Tod noch normal gesprochen habe. Der Experte will sich auch nicht festlegen, ob ihr Tod bei früherer Hilfe überhaupt zu verhindern gewesen sei. Aufgrund ihres Alters hatte sie bereits Herz- und Lungenprobleme sowie andere Beschwerden. Was ihm aufgefallen ist: "Es gibt keinen einzigen Vorbefund", auch Medikamente nahm die Pensionistin nicht, was darauf schließen lässt, dass sie nie Ärzte aufsuchte. "In diesem Alter und bei diesem Zustand würde man normalerweise zumindest Herz- und Entwässerungsmedikamente verschreiben", spricht Denk aus seiner Erfahrung. Wie die Frau zwei Wochen vor ihrem Tod auf Außenstehende gewirkt hat, könne er nicht beurteilen. "Vor ihrem Sturz gab es zwar Unterstützungsbedarf, aber offenbar keine Hilfsbedürftigkeit", hält der Sachverständige fest.

Aufmerksame Leserinnen und Leser werden sich mittlerweile gefragt haben, warum zwar Herr V. vor Gericht sitzt, nicht aber seine Schwester. Die Antwort liefert Sigrun Roßmanith, ihres Zeichens psychiatrische Sachverständige. Sie hat die ursprünglich hauptangeklagte Schwester untersucht und für zurechnungsunfähig erklärt. Die Frau habe nach Komplikationen bei der Geburt eine leichte Intelligenzminderung gehabt, dennoch die Pflichtschule erfolgreich absolviert und einige Jahre gearbeitet. Bei dem Gespräch mit Roßmanith habe die Frau aber den Eindruck einer "sehr abweisenden Person, die abgeschottet in einer Privatwelt ist" gemacht. Die Fachfrau skizziert das Gehabe der Frau weiter als: "Grantig, rasch gereizt, mit einer sensitiven Grundhaltung, dass sie immer gleich dachte, sie sei an etwas schuld."

Abgeschottet in symbiotischer Beziehung

Roßmanith ist überzeugt, dass die Großmutter ein ähnlicher Persönlichkeitstyp und dominierend gewesen sei. "Die beiden haben sicher abgeschottet in einer symbiotischen Beziehung gelebt." Gleichzeitig glaubt die Expertin aber auch nicht, dass Verwandte das in diesem Ausmaß wahrnehmen konnten. Zumindest mussten sie es nicht, da die Schwester des Angeklagten ja durchaus auch vernünftig ihre Bedürfnisse artikulieren konnte. Zusätzlich habe sich die 2020 verstorbene Mutter der beiden davor um die Versorgung gekümmert, bei der Sachverständigen hatte die Schwester aber durchaus anerkannt, dass der Bruder diese Aufgabe übernommen hatte.

Der Staatsanwalt hält in seinem Schlussvortrag die Anklage dennoch aufrecht, gesteht aber eine besondere Gesamtsituation in diesem Fall zu. Verteidiger Krenn ist sich dagegen sicher: "Das Beweisverfahren hat ergeben, dass meinem Mandanten kein Vorwurf zu machen ist." Der Senat sieht das nach zehnminütiger Beratung ebenso und spricht Herrn V. rechtskräftig frei. "Wenn man sich die Anklageschrift ansieht: Es besteht zwar eine Verpflichtung zur Fürsorge auch zwischen Enkel und Großmutter, der Rest erfüllt den Tatbestand aber eigentlich nicht", begründet Vorsitzender Funk das Urteil. Weder sei letztlich klar, was zum Tod der 94-Jährigen geführt habe, noch gebe es einen Hinweis darauf, dass der Angeklagte wissen konnte, dass sie wehrlos gewesen sei. (Michael Möseneder, 12.1.2024)