Wien – Altbundespräsident Heinz Fischer teilt die Uno-Bedenken wegen der katastrophalen humanitären Lage im Gazastreifen. Israel habe nach den "gigantischen Verbrechen" der Hamas am 7. Oktober natürlich das Recht, sich zu verteidigen, so Fischer im APA-Interview, aber: "Auch für die Verteidigung gibt es Grenzen und internationales Recht, das beachtet werden muss." Dass Österreich gegen eine Uno-Resolution für einen humanitären Waffenstillstand stimmte, war laut Fischer "ein Fehler".

Die Verbrechen der radikalislamistischen Terrororganisation Hamas mit rund 1.200 Toten und fast 250 Verschleppten seien "gigantisch und unverzeihlich", hielt Fischer, der von 2004 bis 2016 Bundespräsident war, ausdrücklich fest. "Das steht für mich außer Zweifel." Weiters erklärte er: "Israel hat ein Recht, sich zu verteidigen. Aber auch für die Verteidigung gibt es Grenzen und internationales Recht, das beachtet werden muss." Letzten Endes weine eine palästinensische Mutter genauso um ihr getötetes Kind wie eine israelische Mutter um das ihre, formulierte Fischer.

"Wenn ich daran denke, dann finde ich, dass die Vereinten Nationen recht haben, wenn sie die Einhaltung des Völkerrechts und der Menschenrechte anmahnen. Noch dazu, wo die Menschen, und zwar die Zivilbevölkerung, aus dem Gazastreifen nicht flüchten können. Es ist ein zivilisatorischer Fortschritt der Menschheit, dass wir das einzelne Menschenleben als einen Höchstwert anerkennen und unsere Aktionen und Reaktionen darauf einstellen müssen."

Altbundespräsident Heinz Fischer
Altbundespräsident Fischer warnt vor der Gefahr eines Flächenbrands in Nahost.
APA/HANS PUNZ

Gespräch mit Türk

Er habe sich vor zwei Wochen sehr ausführlich mit dem Vorsitzenden des Uno-Menschenrechtsrats, dem Österreicher Volker Türk, unterhalten, ergänzte der 85-Jährige. "Ich habe volles Vertrauen in seine Berichte beziehungsweise in die Berichte der von ihm geleiteten Behörde." Türk hat sich zuletzt mehrmals sehr besorgt über das militärische Vorgehen Israel im Gazastreifen mit – laut Hamas – bereits fast 24.000 Toten und einer humanitären Notlage geäußert und auch Verstöße gegen das Völkerrecht geortet.

Israels Regierung kritisierte den Uno-Menschenrechtsrat in der Folge als voreingenommenes Gremium und erklärte, sich an seine oder die Weisungen seiner Experten nicht mehr gebunden zu fühlen. Dazu meinte Fischer: "Wenn der UN-Menschenrechtsrat Vorgänge in einer chinesischen Provinz kritisiert, dann schenken wir ihm – auch ich – volles Vertrauen. Wenn der Menschenrechtsrat Vorgänge im Gazastreifen kritisiert, noch dazu Vorgänge, die wir im Fernsehen täglich ziemlich genau beobachten können, dann bezeichnet das Israel als 'voreingenommen'."

Dass Österreich Mitte Dezember gegen eine Resolution für eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen gestimmt hatte, bezeichnete Fischer als "Fehler". "Man sagt, dass der Resolution eine ausdrückliche Verurteilung der Hamas gefehlt habe. Das ist richtig, aber man verschweigt, dass die Resolution die Forderung nach einer Feuereinstellung, die Forderung nach humanitären Maßnahmen, nach Beachtung internationalen Rechts und vor allem auch die Forderung nach sofortiger Freilassung aller Geiseln enthalten hat." Das sei fast allen EU-Staaten – außer Tschechien und Österreich – wichtig genug gewesen, nicht gegen die Resolution zu stimmen.

Fischer stellt sich hinter Babler

Fischer fügte hinzu: "Österreich hat also mit seinem Nein zwar gemeinsam mit Israel und den USA gestimmt, aber anders als Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Schweiz, Schweden, Finnland, Australien, Neuseeland, Kanada und die restlichen EU-Staaten mit Ausnahme der Tschechischen Republik. Das hat sowohl in Österreich als auch international viel Erstaunen und Stirnrunzeln eingebracht."

Die Resolution sei das Ergebnis und "der größte gemeinsame Nenner intensiver Bemühungen im Rahmen der Vereinten Nationen" gewesen und habe viele äußerst wichtige und richtige Forderungen enthalten. Allenfalls hätte es auch das eine oder andere Argument für eine Enthaltung gegeben, räumte der ehemalige SPÖ-Politiker ein. Die Ablehnung sei jedoch eine falsche Entscheidung gewesen.

Die Haltung der österreichischen Bundesregierung war auch von SPÖ-Chef Andreas Babler kritisiert worden. Dieser wurde daraufhin vom Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Wien (IKG), Oskar Deutsch, aufgefordert, seinen "Kompass dringend neu zu kalibrieren", um keine "Täter-Opfer-Umkehr" zu betreiben. Fischer erklärte dazu gegenüber der APA: "Ich respektiere die besondere Betroffenheit des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde. Aber der SPÖ-Vorsitzende Babler muss seinen Kompass nicht neu kalibrieren. Oskar Deutsch sollte sich vielmehr die Resolution im Wortlaut durchlesen und auch das Abstimmungsergebnis im Einzelnen studieren."

Netanjahu wird nicht Zukunft des Landes gestalten

Auf die Frage, ob Israels rechtsnationaler Regierungschef Benjamin Netanjahu, der in seinem Land vor dem 7. Oktober wegen einer umstrittenen Justizreform selbst unter Druck stand, den aktuellen Gazakonflikt – wie Kritiker meinen – möglicherweise auch für eigene, innenpolitische Zwecke nutzen wolle, gab sich Fischer zurückhaltend: "Ich kann und will das nicht beurteilen, aber Freunde in Israel sagen mir, dass die Zukunft dieses Landes nicht von Netanjahu gestaltet werden wird. Und es scheint mir wichtig sich auf die Zukunft Israels zu konzentrieren."

Ebenso verhalten äußerte sich der Jurist Fischer zur Frage, welche Folgen die Klage Südafrikas gegen Israel wegen Völkermords vor dem Internationalen Gerichtshof haben könnte: "Es wird für den Internationalen Gerichtshof eine enorm schwierige Aufgabe sein auf der Basis aller Fakten, die ihm vorgelegt werden, ein Urteil zu fällen. Für mich als Einzelperson ist das unmöglich."

Dass sich der Zugang der österreichischen Politik gegenüber dem Nahen Osten seit der Ära von Sebastian Kurz (ÖVP), der als Außenminister und später als Regierungschef auch ein sehr enges Verhältnis zu Premier Netanjahu pflegte, in eine betont proisraelische Richtung gedreht habe, kommentierte Fischer wie folgt: "Im Prinzip ist es zu begrüßen, wenn eine christlichsoziale Partei Israel fair und vorurteilsfrei gegenüber tritt. Aber bei Sebastian Kurz und seiner demonstrativen Hofierung von Netanjahu kann man nicht ausschließen, dass auch andere Motive maßgeblich waren beziehungsweise sind, zum Beispiel das Motiv, dass die israelische Regierung der Lieblingskoalition von Kurz, nämlich ÖVP/FPÖ, mit einer gewissen Zurückhaltung in der Kritik begegnet."

Kritik an Netanjahu nicht gleich antisemitisch

Bezüglich des Umstands, dass sich Österreich und Deutschland in der Nahostfrage auch wegen der gemeinsamen Geschichte – Stichworte Antisemitismus und Holocaust während des Nationalsozialismus – Israel gegenüber wohl besonders verpflichtet fühle, meinte Fischer: "Man soll aktuelle Entwicklungen nicht anhand der Verbrechen von Vorfahren oder der Vorvorfahren bewerten, aber man soll bei der Beurteilung aktueller Entwicklungen auch die Vorgeschichte kennen und berücksichtigen." Auch die jüngste Entwicklung im Nahen Osten könne man nur sachkundig beurteilen, wenn man auch die Entwicklung seit 1945 oder besser noch seit 1933 kenne. "Aus dieser Perspektive muss auch das Existenzrecht Israels und das Recht auf Sicherheit im Rahmen international anerkannter Grenzen, sowie das Recht der Palästinenser auf Sicherheit in einem auf friedlichen Weg zu schaffenden Staatswesen anerkannt werden. Gleichzeitig ist es mir wichtig zu betonen, dass man nicht jede Kritik an Netanjahu und seiner Politik in Bausch und Bogen als Antisemitismus abtun kann."

Eine Lösung des Nahostkonflikts sei trotz allem wohl nur mit der seit langer Zeit angestrebten Zweistaatenlösung erreichbar, so der frühere Bundespräsident. Diese sei momentan aber in weite Ferne gerückt. "Die Zweistaatenlösung ist etwas, was eine Regierung unter dem Vorsitz von Netanjahu und mit mehreren rechtsextremen Kabinettsmitgliedern eher nicht haben will. Und auch auf palästinensischer Seite gibt es in Theorie und Praxis nach wie vor große Vorbehalte. Aber es scheint der einzig gangbare Weg zu sein. Und vielleicht könnte dieses Ziel in der Zeit nach Netanjahu und unter dem Schock der jüngsten Ereignisse doch näher rücken und Realität werden. Eine starke Unterstützung durch die USA wäre dazu erforderlich."

Aktuell bestehe aber die Gefahr einer Eskalation des Nahostkonflikts, bekräftigte Fischer entsprechende Warnungen von US-Außenminister Antony Blinken. "Leider ist diese Gefahr tatsächlich gegeben, und es muss hart daran gearbeitet werden, einen 'Flächenbrand' zu vermeiden. Wenn die Vernunft siegt, kann er vermieden werden. Wenn Emotionen und Rachegedanken siegen, steigt die Wahrscheinlichkeit eines solchen 'Flächenbrandes'. Und es gibt natürlich sehr viele Emotionen in diesem Konflikt." (APA, red, 15.1.2024)