STANDARD: Israel beschuldigt die Vereinten Nationen, im Nahostkrieg die Terrororganisation Hamas zu unterstützen. Die Regierung Benjamin Netanjahu wirft auch Ihnen Parteilichkeit vor und forderte UN-Generalsekretär António Guterres sogar zum Rücktritt auf. Was sagen Sie?

Volker Türk
Volker Türk: "Es ist zu hoffen, dass die vielen Verbrechen in diesem Krieg – auf beiden Seiten – nicht rechtlich ungesühnt bleiben."
EPA/SALVATORE DI NOLFI

Türk: Israel und jeder andere Staat darf die UN und ihre Institutionen wie mein Hochkommissariat kritisieren. Das ist vollkommen legitim. Ich wehre mich aber dagegen, wenn die UN als Sündenbock herhalten sollen. Wir alle müssen uns vor einem Lagerdenken hüten. Das Lagerdenken unterteilt die Akteure in solche, die für einen, und solche, die gegen einen sind. Das ist gefährlich. Wir alle sind Freunde Israels, und wir alle sind Freunde Palästinas, die Menschenrechte gelten gleich für alle.

STANDARD: UN-Ermittler legen der Hamas und Israels Streitkräften schwere Verletzungen der Menschenrechte bis hin zu Kriegsverbrechen zur Last. Um was geht es konkret?

Türk: Der Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, der diese neueste Konfliktphase auslöste, war verabscheuungswürdige Gewalt, auch gezielt gegen unschuldige Zivilisten gerichtet. Die grausamen Ermordungen, die Geiselnahmen, die Folterungen und üblen Misshandlungen – auch, wie berichtet, sexuelle Gewalt. Zudem verbirgt sich die Hamas militärisch hinter Zivilobjekten und feuert wahllos Raketen auf Israel.

STANDARD: Und die Israelis?

Türk: Das monatelange israelische Bombardement des dichtbevölkerten Gazastreifens mit mehr als 23.000 getöteten Menschen – davon in der Mehrheit Frauen und Kinder – ist eine unverhältnismäßige Militäraktion als Antwort auf die Hamas-Terrorakte. Israel blockiert oder verlangsamt humanitäre Hilfe im dringend notwendigen Ausmaß und riskiert damit eine sich ausbreitende Hungersnot im Gazastreifen. Wir sehen darin Anzeichen einer kollektiven Bestrafung der Bevölkerung im Gazastrafen für Terrorakte der Hamas.

STANDARD: Kollektive Bestrafungen sind laut Völkerrecht untersagt. Südafrika wirft nun beim Internationalen Gerichtshof Israel die Verletzung der Völkermordkonvention vor. Wie lautet Ihre Meinung dazu?

Türk: Diese Frage ist äußerst komplex und kann nur wirklich vor Gericht entschieden werden, da sie zu den schwerwiegendsten Anschuldigungen im internationalen Rechtssystem gehört. Der Internationale Gerichtshof, als höchste Rechtsinstanz der UN, wird sich damit sorgfältigst auseinandersetzen – wie auch schon früher in Bezug auf die Situationen in Myanmar, in der Ukraine und in Bosnien.

STANDARD: Sie ermitteln auch zu Menschenrechtsverletzungen im palästinensischen Westjordanland?

Türk: Ja. Zwischen dem 7. Oktober und dem 27. Dezember 2023 sind im besetzten Westjordanland, einschließlich Ostjerusalem, 300 Palästinenser – darunter 79 Kinder – ums Leben gekommen. Das ist die höchste Opferzahl seit fast zehn Jahren. Die meisten von ihnen sind von israelischen Sicherheitsbehörden, aber auch von Siedlern getötet worden.

STANDARD: Was kennzeichnet die Gewalt dieser Siedler?

Türk: Die Entmenschlichung der Palästinenser, die viele der Aktionen der Siedler kennzeichnet, ist sehr beunruhigend und muss sofort aufhören. Die israelischen Behörden sollten diese komplett inakzeptable Gewalt der Siedler scharf verurteilen und verhindern. Anstifter und Täter müssen strafrechtlich verfolgt werden.

STANDARD: Glauben Sie, dass alle Straftäter im Nahostkrieg zur Rechenschaft gezogen werden können?

Türk: Zunächst muss man die mutmaßlichen Täter und Verantwortlichen finden und dingfest machen. Dann müssen nationale oder internationale Gerichte feststellen, um welche Verbrechen es sich handelt, und Schuldige verurteilen. Es ist zu hoffen, dass die vielen Verbrechen in diesem Krieg – auf beiden Seiten – nicht rechtlich ungesühnt bleiben. Eine Nichtverfolgung der Straftaten wäre ein verhängnisvolles Signal, dass Täter straffrei ausgehen können.

STANDARD: Der Internationale Strafgerichtshof hat zwar im Falle bestimmter russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine einen Haftbefehl gegen Präsident Wladimir Putin erlassen. Aber die Verbrechen der Führung in Moskau und ihrer Streitkräfte sind bis heute weitgehend ungesühnt …

Türk: Im Moment würde ich das so sehen. Doch, genauso wie im Nahostkonflikt, arbeitet jetzt schon die internationale Justiz daran. Das gibt Hoffnung auf konkrete Konsequenzen, wie wir sie auch anderswo gesehen haben. Wenn wir in die Geschichte schauen, wird klar, dass irgendwann die Täter doch zur Rechenschaft gezogen werden.

STANDARD: Sie haben zuletzt mehrmals den desolaten Zustand der Menschenrechte in vielen Teilen der Welt beklagt, besonders in Konfliktsituationen. Hat die Welt 75 Jahre nach Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte nichts gelernt?

Türk: Menschen leiden und sterben in 55 Kriegen und Gewaltsituationen rund um den Globus, von Afghanistan und Myanmar über Haiti bis zum Sudan und Syrien. Wir erleben ein Ausmaß an gewaltsamen Konflikten wie seit 1945 nicht mehr. Heute lebt ein Viertel der Menschheit in Gebieten, die von Konflikten betroffen sind. Ich habe die große Sorge, dass viele dieser bewaffneten Konfrontationen und die betroffenen Bevölkerungen aus dem internationalen Blickfeld rutschen und in Vergessenheit geraten.

STANDARD: Wie sind die Aussichten für politische Lösungen dieser Konflikte?

Türk: Friedensinitiativen sind kaum zu sehen. Ich befürchte, dass sich unmittelbar wenig zum Guten ändern wird. Gleichzeitig erlebe ich, gerade unter jungen Menschen, eine Aufbruchstimmung für die Menschenrechte, für Frieden und Aktionen gegen den Klimawandel. Das gibt mir Hoffnung. (Jan Dirk Herbermann, 17.1.2024)