Die Siegfahrt von Stephan Eberharter vor 20 Jahren auf der Streif ging in die Annalen ein. Über keinen anderen seiner zahlreichen Triumphe wurde der Tiroler nur annähernd so oft befragt.
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Vor 20 Jahren, am 24. Jänner 2004, drohte das ungemein starke Team des Skiverbandes ÖSV den erhofften, ja erwarteten Heimsieg in Kitzbühel zu verpassen. Nur noch Stephan Eberharter, der zwei Tage zuvor in einer Zusatzabfahrt vom Norweger Lasse Kjus um eine Hundertstel geschlagen worden war, konnte das mit Startnummer 30 verhindern. Und der damals 34-Jährige setzte sich tatsächlich, noch dazu in beeindruckender Manier, mit 1,21 Sekunden vor Daron Rahlves aus den USA durch, sodass seine Bolzerei danach als die perfekte Fahrt in die Geschichtsbücher einging. Eberharter über die Perfektion, das Limit, die Rivalität im Team und den üppigen Rennkalender.

STANDARD: Was braucht es für die perfekte Fahrt?

Eberharter: Jeder Rennläufer hat dieses perfekte Rennen im Kopf, das will er auch fahren, nie Fehler machen und alles so erwischen, wie er es sich bei der Besichtigung angeschaut hat. Fakt ist, dass man das fast nie abrufen kann. Bei mir war die Fahrt nahezu perfekt, bis auf einen kleinen Schnitzer bei der Einfahrt in den Lärchenschuss, wo ich vielleicht eine Spur zu direkt war, bissl weniger Geschwindigkeit hatte und dann bis zum Oberhausberg zwei Zehntel bekommen habe.

STANDARD: Wie findet man die richtige Balance, um nicht zu energisch zu attackieren?

Eberharter: Es ist eine Gratwanderung. Marco Odermatt und Cyprien Sarrazin sind vollgetankt mit Selbstvertrauen, wissen genau, was sich ausgeht. Sie attackieren gnadenlos, gehen mit hundert Prozent all in. Ich bin schwer beeindruckt, wie sie zu Werke gehen. Da gibt es keine Kompromisse. Sie riskieren auch dort voll, wo andere Bremsschwünge machen. Die anderen sind fast gezwungen, es ihnen gleichzutun, sonst haben sie keine Chance. Man muss ein sehr hohes Risiko gehen und auch noch gut Skifahren. Alles muss zusammenpassen. Wenn es heißt, den letzten Schritt zu gehen, der nötig ist, um ganz oben zu stehen, ist jeder sein eigener Kapitän.

STANDARD: War es mehr Fluch oder Segen, dass die Konkurrenz damals allein schon aus den eigenen Reihen mit Hermann Maier, Fritz Strobl, Hans Knauß, Michael Walchhofer und Hannes Trinkl enorm stark war?

Eberharter: Diese Konstellation war eine eigene Geschichte. Wir sind als Team immer gemeinsam aufgetreten und das wurde so wahrgenommen, aber wir waren alle Einzelkämpfer und jeder hat auf sich selbst geschaut. Ich habe es aber immer geschätzt, starke Rennläufer um mich zu haben, weil ich sehen konnte, was sie machen. Ich hatte immer den Vergleich. Man ist immer ein Getriebener, kann nie lockerlassen. Das macht eine starke Konkurrenz aus. Wobei es hart war, wenn es um vier Plätze für eine WM ging, man musste sich schon hineinklemmen.

Stefan Eberharter Kitzbühel 2004
Einer der besten Läufe auf der Streif.
stef zufall

STANDARD: Hatten Sie kein Problem mit dem Druck, liefern zu müssen?

Eberharter: Man muss Vieles ausblenden, bei dem der Normalbürger glaubt, dass wir uns das alles umhängen. Aber ich habe mir keinen Druck gemacht, um für Österreich oder den ÖSV zu gewinnen. Da ging es nur um meinen Erfolg. Im Endeffekt ist es dir wurscht, was die anderen zustandebringen. Das wird nicht gerne gehört, ist aber die Wahrheit. Wir sind keine Fußballmannschaft, wir verbringen zwar viele Monate gemeinsam, aber jeder ist sich selbst am nächsten. Es ist eh ein Wunder, dass wir uns nicht die Schädel eingeschlagen haben, aber Akzeptanz und Toleranz waren immer dabei.

STANDARD: Auf der Streif sind Fehler kaum vermeidbar, speziell wenn man ans Limit geht. Wie konnten Sie 2004 so souverän abfahren?

Eberharter: Ich war stark im Kopf, das Mentale war bei mir nie ein Problem. Sobald ich aus dem Starthaus war, gab es bei mir immer nur die Vollattacke. Die halbe Stunde davor war nicht einfach, da geht einem viel durch den Kopf. Ich bin davor mehrmals das Rennen in Gedanken durchgegangen, um alles zu automatisieren, was automatisiert gehört. Man nimmt sich Vieles vor, zum Beispiel die Steilhangausfahrt eng zu fahren, damit man viel Speed mitnimmt. Der Rest läuft ab wie ein Sprint. Ich war vorher immer sehr fokussiert, habe keinen Blödsinn gemacht. Damals war es ohne Smartphones auch noch viel ruhiger.

STANDARD: Trotz voller Attacke haben Sie sich dann doch an manchen Stellen zurückgehalten?

Eberharter: An ein paar Stellen darf man nicht das allerletzte Risiko nehmen, weil es sonst ganz böse enden kann. Ich habe viel erlebt, war sehr erfolgreich und mit den Jahren kriegt man viel Erfahrung. Man weiß dann ganz genau, was man körperlich und mental in der Vorbereitung machen muss, um im Winter so weit zu kommen. Das habe ich für mich gut hingebogen.

STANDARD: Ist man aufgrund äußerer Einflüsse manchmal auch ein wenig Passagier?

Eberharter: Wenn die Verhältnisse irregulär sind, wird man nicht starten oder unterbrechen. Passagier ist man eigentlich nie und das soll auch nicht sein. Man muss agieren und nicht reagieren, muss aktiv fahren und sich nicht runtertreiben lassen. Man muss Pilot sein.

Eberharter: "Ich war die letzte Hoffnung auf einen österreichischen Sieg und bin mit Startnummer 30 Bestzeit gefahren. Deshalb ist es den Menschen wahrscheinlich im Gedächtnis geblieben."
Privat

STANDARD: Haben Sie über die Jahre andere Siegläufer gesehen, die der Perfektion nahegekommen sind?

Eberharter: Viele Sieger sind sehr gut gefahren. Man darf nicht vergessen, dass die Abfahrtskurse auch immer leicht verändert werden. Da das Material und die Läufer immer besser werden, muss man bei der Kurssetzung reagieren und noch den einen oder anderen Meter aus der Falllinie gehen, damit sie überhaupt noch ins Ziel kommen. Heute kann man in Kitzbühel gar nicht mehr so fahren wie früher, das würde sich nicht mehr ausgehen. Bei mir war es damals sehr emotional, weil die Fahrt und die Dramaturgie sehr gut waren. Ich war die letzte Hoffnung auf einen österreichischen Sieg und bin mit Startnummer 30 Bestzeit gefahren. Deshalb ist es den Menschen wahrscheinlich im Gedächtnis geblieben.

STANDARD: Zwei Abfahrten in Wengen, zwei in Kitzbühel. Überschreitet man damit die Belastungsgrenze bzw. werten Zusatzrennen die Klassiker ab?

Eberharter: Das ist zu viel, die Fis geht den falschen Weg, alles aufzublasen. Dem Skisport würde es guttun, erst im November zu beginnen. Die Klassiker sollten mit je einem Rennen veranstaltet werden und es sollte generell reduziert werden, damit die Läufer auch regenerieren können. In Wengen und Bormio sollen keine Rennen nachgeholt werden, dort ist die Belastung zu hoch. Im Bormio geht es gleich so zur Sache, wie wenn man in die Hölle geschmissen wird. In Kitzbühel ist es genauso brutal, aber im Mittelabschnitt gibt es flachere Passagen, die körperlich nicht so fordernd sind.

STANDARD: Marco Schwarz ging in vier Disziplinen an den Start, ehe er sich in Bormio einen Kreuzbandriss zuzog. War sein Programm zu umfangreich?

Eberharter: Mir taugt es, wie er sich entwickelt hat. Er hat gesagt, er würde wieder in vier Disziplinen starten. Das ist seine Entscheidung, aber gerade beim jetzigen, überfüllten Kalender, in dem der Jänner der Hauptmonat ist, hätte er sich Bormio schenken können. Auch früher haben Allrounder wie Kjetil André Aamodt, Lasse Kjus oder Günther Mader Rennen auslassen müssen, weil es zu viel war. Aber im Nachhinein ist man immer gescheiter. Ich bin selbst drei Disziplinen gefahren, so ein Winter ist lang. Jede Stunde, die ich mir wegstehlen konnte, war ich zuhause auf der Couch und habe geschlafen. Man muss mit den Kräften haushalten, dann ist oft weniger mehr.

STANDARD: Will Ihr vierzehnjähriger Sohn auch Skirennläufer werden?

Eberharter: Gott sei Dank nicht. Wenn er gewollt hätte, dann hätte ich ihn unterstützt, logisch. Man muss froh sein, wenn Kinder Träume und Ziele haben. Er fährt gut Ski, aber mir ist es nicht unrecht so, weil die Verletzungen schon eher zugenommen haben. Und der Sport ist im Vergleich zu Radfahren oder Tennis sehr aufwändig geworden, auch weil es hier zu warm geworden ist. (Thomas Hirner, 18.1.2024)