Für die israelische Meinungsforscherin und Politikanalystin Dahlia Scheindlin befinden sich Israel und die Palästinenser in einer verzweifelten Lage, aus der sie nur internationale Hilfe herausführen kann. Kurzfristige Abhilfe sieht sie nicht, aber doch langfristige Perspektiven, sobald die Waffen schweigen. Am Sonntag wird Scheindlin im Rahmen der Reihe "Europa im Diskurs – Debating Europe" im Wiener Burgtheater, die DER STANDARD gemeinsam mit der Erste-Stiftung, dem Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und dem Burgtheater organisiert, über mögliche Friedensperspektiven in Nahost sprechen. DER STANDARD hat vorher mit ihr in Tel Aviv telefoniert.

STANDARD: Umfragen nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober legen nahe, dass die Identifikation der arabischen Israelis mit ihrem Staat seither stark gestiegen ist. Stimmten dieser im Juni noch 48 Prozent zu, waren es im November laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute 70 Prozent. Wie kommt das?

Scheindlin: Tatsächlich weiß ich nicht, ob das wirklich ein stabiler Befund ist. Zuletzt sind diese Zahlen auch wieder gesunken. In den Wochen unmittelbar nach Kriegsbeginn gab es in Israel Chaos und Angst unter den Arabern in Israel und ein hartes Durchgreifen der Polizei. Einerseits war die arabische Minderheit auch selbst Opfer der Hamas-Attacke, andererseits waren viele auch ganz einfach angewidert. Binnen Stunden haben ihre politischen Vertreter den Anschlag verurteilt. Gleichzeitig hat die israelische Staatsmacht in den arabischen Gebieten hart durchgegriffen. Viele hatten dann den Eindruck, sie sollten wohl besser ihre Verbundenheit mit Israel ausdrücken.

Dahlia Scheindlin
Dahlia Scheindlin lebt und arbeitet in Tel Aviv.
Eyal Warshavsky

STANDARD: Was wissen Sie über den Rückhalt der Hamas in den Palästinensergebieten?

Scheindlin: Seit einigen Jahren kommt die Hamas bei Umfragen, wenn es etwa um Parlamentswahlen geht, auf Zahlen um die 30 Prozent. Vor dem Anschlag sahen wir eine etwas höhere Zahl in Gaza und eine etwas niedrigere im Westjordanland. Bei Umfragen, die eine mögliche Präsidentschaftswahl zum Thema haben, würde Ismail Hanija (Hamas-Chef, Anm.) nahe an Mahmoud Abbas (Palästinenserpräsident, Fatah, Anm.) kommen oder sogar gewinnen. Wichtig ist aber auch, dass die Unterstützung für die Hamas seit Kriegsbeginn im Westjordanland viel höher ist als in Gaza. Eine Umfrage, die vor etwa drei Wochen vom Palestinian Center for Policy and Survey Research veröffentlicht wurde, zeigt den größten Unterschied, den ich jemals beobachtet habe. Drei Viertel der Palästinenser im Westjordanland sagten, sie wünschten sich nach dem Krieg in Gaza wieder die Hamas an der Macht. In Gaza selbst waren es hingegen nur 38 Prozent.

STANDARD: Woran liegt das?

Scheindlin: Die Menschen in Gaza müssen mit den Konsequenzen leben. Sie leiden unter dem Krieg und bringen ihre Skepsis über die Hamas zum Ausdruck. Im Westjordanland hingegen denken die Menschen, dass die Hamas immerhin Israel einen Schlag versetzt hat.

STANDARD: Wie kann Demoskopie in autoritären Gesellschaften wie dem Gazastreifen und dem Westjordanland überhaupt funktionieren?

Scheindlin: Grundsätzlich haben die Menschen dort kein großes Problem damit, Fragen zu beantworten, was dadurch belegt wird, dass viele Menschen in den vierteljährlichen Umfragen ihre Meinung ändern. Das Problem ist eher, dass es kaum Zugang zu unabhängiger Information gibt. Die meisten Palästinenser haben etwa keine Bilder der Gräueltaten gesehen, weshalb bei vielen das Narrativ verfängt, die Angriffe seien schlicht der Versuch gewesen, die Sache der Palästinenser wieder auf das Tapet zu bringen.

Frau mit Palästinensertuch und Fahne.
Auch in den umliegenden Ländern gehen Menschen, hier diese Dame, für die Sache der Palästinenser auf die Straße – und gegen Israel.
EPA

STANDARD: Die USA wünschen sich eine Machtübernahme der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), die aktuell das Westjordanland regiert, auch im Gazastreifen, sobald der Krieg zu Ende ist. Ist das realistisch?

Scheindlin: Diese Idee hat sich sehr schnell als Rohrkrepierer erwiesen. Schon deshalb, weil niemand die PA mehr hasst als die Palästinenser. 80 Prozent halten sie für korrupt, 80 Prozent wollen, dass Abbas zurücktritt. Das Problem ist, dass es nicht wirklich andere Optionen gibt. Die PA hat zudem durchaus legitime und funktionierende Institutionen, die als Basis einer reformierten Führung dienen könnten.

STANDARD: Gibt es noch Hoffnung auf eine Zweistaatenlösung?

Scheindlin: Meiner Meinung nach gibt es für diese Idee schon seit etwa 2012 keine Hoffnung mehr. Eine Zweistaatenlösung ist wegen der sich ausbreitenden Siedlungen mittlerweile nicht mehr denkbar, ohne 175.000 Siedler zu vertreiben. Ideen wie Trennung und Isolation führen zu einem Szenario wie Gaza. Eine Zweistaatenlösung hingegen, die auf nationale Selbstbestimmung und institutionalisierte Zusammenarbeit – etwa auf Gebieten wie Sicherheit, Gesundheit und Klima – beruht und nicht versucht, Bevölkerungsgruppen physisch auseinanderzureißen, ist langfristig die einzig sinnvolle Lösung.

STANDARD: In einer Kolumne in Haaretz schreiben Sie, dass Israelis und Palästinenser dringend Hilfe von außen bräuchten, um zu einer Lösung des Konflikts zu gelangen. Wie könnte diese Hilfe aussehen?

Scheindlin: Wenn die internationale Gemeinschaft nicht Druck auf Israel ausübt, wird dieser Krieg nie enden. Eine Feuerpause können etwa nur die USA erreichen. Die Hamas hat mit ihrem bewaffneten Arm zwar jegliche moralische Autorität verloren. Jemand wird aber entscheiden müssen, welche Teile ihres politischen Arms in Zukunft dem politischen Prozess angehören könnten. Man kann diese Bewegung nicht auslöschen. Ich wäre für eine zeitlich begrenzte internationale Verwaltung und eine Art Marshall-Plan für Gaza. Da sollten nicht nur westliche, sondern auch nahöstliche Partner mitmachen. Nur sie können beide Seiten zu einer langfristigen Lösung drängen, auch wenn es lang dauern wird. (Florian Niederndorfer, 18.1.2024)