Szene aus dem Gerichtssaal vor Verhandlungsbeginn
Der greise Angeklagte, hier im Gespräch mit Verteidiger Florian Kreiner, kam mit Rollator zu seiner Verhandlung.
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Wien – Eines steht fest: Das Leben von Familie D. war nicht harmonisch. Das sagen im Verfahren gegen den 86-jährigen Herrn D. vor einem Geschworenengericht unter Vorsitz von Magdalena Klestil-Krausam alle Beteiligten. "Es hod augfaunga, wias ma was z' Fleiß tan hom", sagt der Angeklagte, das Zusammenleben sei "scheußlich" gewesen, seine 76 Jahre alte Gattin. "Er mocht gern wos z' Fleiß, er hod zwa Seiten! Er is jo rabiat!", warnt der 52-jährige Sohn des Paares die Vorsitzende. "Der oarma Mau is jo nua gschimpft worden von da Familie!", schildert der 80-jährige Nachbar die Situation – die am späten Nachmittag des 29. Juli endgültig eskaliert sein soll: Die Staatsanwältin wirft Herrn D. vor, er habe versucht, seinen Sohn mit einer Pistole zu töten, was nur daran gescheitert sei, dass die Waffe nicht entsichert gewesen sei. Der Angeklagte und sein Verteidiger Florian Kreiner sagen dagegen, es habe sich nur um eine gefährliche Drohung gehandelt. Der Greis habe gewusst, dass die Walther PPK – die auch von einem bekannten britischen Behördenmitarbeiter bevorzugte Faustfeuerwaffe – gesichert gewesen sei.

Der gesundheitliche Zustand des Pensionisten und vieler Zeugen stellt Klestil-Krausam im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts für Strafsachen Wien vor gewisse Probleme. Herr D. stützt sich auf einen Rollator, als er von Justizwachebeamten vorgeführt wird. Wie sich herausstellt, versteht er trotz Hörgeräts die Vorsitzende schlecht – er darf daher unmittelbar vor dem Richterinnentisch Platz nehmen.

Scheidung und Wiederverheiratung

Vor 53 Jahren heiratete der Unbescholtene seine Gattin ein erstes Mal, ließ sich scheiden, dann folgte die Wiederverheiratung. Seit 35 Jahren leben Vater, Mutter, Sohn im Reihenhaus einer Siedlungsgenossenschaft in einem sogenannten Flächenbezirk Wiens. Konflikte gab es immer wieder, in der jüngeren Vergangenheit wurde es immer schlimmer. Sowohl der Vater als auch der mehrfach vorbestrafte Sohn hatten nach einem Streit, bei dem die Polizei einschritt, ein Waffenverbot erhalten. Im Februar 2022 kam der Sohn ins Spital und sagte, sein Vater habe ihm eine Weinflasche auf dem Kopf zerbrochen. Umgekehrt sagt der 86-Jährige, seit eineinhalb Jahren würden ihm die Ehefrau und der Sohn ständig Dinge verstecken, ihn schimpfen und vorwerfen, dass er im Haushalt zu wenig mitarbeite. Einmal habe ihm seine Gattin einen Kübel Wasser über den Kopf geschüttet, als er vor dem Fernseher gesessen sei, erzählt er Klestil-Krausam. Bei einer anderen Gelegenheit habe die Frau gesagt: "Du kummst ma z' teuer, du musst di söbst vasurgn!" – und das Kochen eingestellt. Auch einen der Hunde habe die Frau ohne Rücksprache einschläfern lassen.

Dabei hatte der Österreicher in Wahrheit nur einen Wunsch gehabt: "I woit in Ruhe fernschauen!", erwähnt Herr D. mehrmals. Er habe bereits auf einen Platz im Pensionistenheim gewartet, um dieses Ansinnen dort umsetzen zu können. "Und daun woit i des Siedlungshaus zruckgeben. Daun hättens schau miassn, wias zrecht kumman. Des warad mei Genugtuung gewesen!", verrät er.

Vorsitzende mit Engelsgeduld

Klestil-Krausam, die zweifelsohne auch eine großartige Karriere als Altenbetreuerin einschlagen könnte, versucht mit Engelsgeduld, den gelegentlich abschweifenden Angeklagten zur Schilderung der angeklagten Tat zu bringen. "I woit eam jo wirklich nur schrecken!", beteuert der 86-Jährige. Er sei in die Garage gegangen und habe den Sohn im Verdacht gehabt, erneut Schlüssel versteckt zu haben. Der 52-Jährige kam nach, es entstand ein Wortgefecht. Der Vater nahm die geladene Pistole aus einer Lade, näherte sich von hinten dem Sohn und kündigte an: "Du Hurnkind, i daschieß di jetzt!" Abgedrückt habe er aber nicht, sich dafür aber überzeugt, dass die Waffe gesichert sei. Die von der Staatsanwaltschaft angenommene Mordabsicht sei auch deshalb falsch, da er den Sohn ja angesprochen und nicht einfach abgedrückt habe, argumentiert er.

Es sei dann zu einem Gerangel gekommen, bei dem ihm der Sohn die Waffe entringen konnte und ihn zu Boden gebracht habe. Allerdings: Die von der Mutter alarmierte Polizei hielt in einem Aktenvermerk fest, was der Angeklagte unmittelbar danach zu den Beamten gesagt hat. Da sagte D. nämlich noch, er habe abgedrückt, "oba i Trottel hob vagessen, die Sicherung zu drücken". Daran will der 86-Jährige sich heute nicht mehr erinnern können.

"Wieso haben Sie überhaupt eine Waffe, obwohl Sie ein Waffenverbot haben?", interessiert die Vorsitzende. Die Walther besitze er seit 30 Jahren, entgegnet der Angeklagte. Und überhaupt: "Wissens, wia vü Leit in da Siedlung illegale Woffn haum?", stellt er eine Gegenfrage. "Es wird jo in da Siedlung so vü eibrochen!", liefert D. noch als Begründung.

Nachbar entlastet den Angeklagten

Der 80-Jährige Nachbar, der aufgrund einer Lungenerkrankung einen Sauerstofftank mit in den Saal nimmt, bricht eine Lanze für den Angeklagten. Die Gattin habe immer "ordinäre Sachen" zu ihrem Gatten gesagt, der Sohn habe in der Vergangenheit sogar ihn bedroht. Am Tattag habe er aus der Garage Hilfeschreie gehört, von wem, könne er nicht sagen. Als er nachschaute, sei der Angeklagte auf dem Boden gelegen und der stehende Sohn habe einen Fuß auf ihm gehabt. Als der Nachbar sich erkundigte, was passiert sei, habe der Sohn geantwortet, sein Vater sei über den Rollator gestolpert. Um Hilfe habe ihn niemand gebeten, daher sei er wieder gegangen.

Verteidiger Kreiner will vom Zeugen noch wissen, wie oft der Sohn einen Rollstuhl benutze. Der gibt zu Protokoll, dass dieser zu Fuß "flott unterwegs" sei und auch Auto fahre. Eine Gehhilfe will er nie bemerkt haben. "Brauchen Sie eine Bestätigung, dass Sie da waren?", fragt Klestil-Krausam den Zeugen am Ende. "Na. Oda jo, für d' Frau vielleicht!", sorgt der 80-Jährige für Heiterkeit im Saal. "Pfiat di, mei Burli!", verabschiedet er sich vom Angeklagten.

Als nächster Zeuge wird der Sohn einvernommen – und kommt im Rollstuhl. Seine Verachtung für den Vater ist beinahe körperlich spürbar, als er aussagt. Ständig habe der Vater ihm Sachen zu Fleiß gemacht, behauptet er, außerdem sei er ein Spiegeltrinker, der täglich Alkohol konsumiere. Der psychiatrische Sachverständige Thomas Memmer hat allerdings festgestellt, dass sich weder aus den Blutwerten des Angeklagten noch aus seinem Verhalten in der Untersuchungshaft und im Spital irgendwelche Hinweise für einen pathologischen Alkoholgebrauch ableiten lassen. Klestil-Krausam hält das dem Zeugen vor, der bleibt aber bei seiner Anschuldigung.

Opfer schildert mehrere Schussversuche

Am Tattag habe er vermutet, dass der Vater in der Garage wieder Böses anstellen wolle, und sei ihm daher nachgegangen. Es sei zum Streit gekommen, dann habe der Angeklagte die Pistole geholt und ihn bedroht. Neben dem Satz mit dem unhöflichen Verweis auf die Abstammungslinie habe D. auch angekündigt, erst den Sohn, dann die Frau und schließlich sich selbst zu töten. Als er die Waffe an den Kopf gehalten bekommen habe, habe er ein leises Klacken gehört, im Gerangel habe der Vater noch zweimal abgedrückt, als die Pistole auf den Bauch des Opfers gezielt habe.

Wie ihm die Vorsitzende vorhält, hat der Sohn die zweite Drohung und die weiteren angeblichen Schussversuche bei der Polizei ursprünglich nicht erzählt, erst bei einer kontradiktorischen Einvernahme im Vorfeld des Prozesses kam das auf. "Mir ist nicht gleich alles eingefallen. Ich hatte einen Schock!", begründet der Zeuge das. Zum Erscheinen des Nachbarn sagt er, er habe ihn um Hilfe angefleht und auf die Pistole in der Hand des Vaters hingewiesen, der Nachbar sei aber lächelnd wieder gegangen, unterstellt er ihm unterlassene Hilfeleistung. Dem Vater hält er vor, ihn und die Mutter bei allen Bekannten schlechtgemacht zu haben. "Wir haben nur mehr uns. I hob die Mamsch und meine Mutter mich", beschreibt er sein Verhältnis zur Mutter, das Verteidiger Kreiner als "symbiotische Beziehung, die nicht nachvollziehbar ist", skizziert. Beisitzerin Sonja Weis hat noch eine Frage: "Warum brauchen Sie denn einen Rollstuhl?" – "Wäu meine Fiaß hi san!", antwortet der Zeuge. Daheim gehe er allerdings durchaus zu Fuß, und Auto fahre er auch, gibt er schließlich bekannt.

Keine Trennung aus finanziellen Gründen

Auch die 76-jährige Mutter fährt im elektrischen Rollstuhl vor. Da auch sie schlecht hört, wird sie ebenso direkt vor Klestil-Krausam platziert. Auch sie zeichnet ein denkbar schlechtes Licht ihres laut Gutachter an leichter Demenz leidenden Ehemanns. Er habe immer geschimpft und gestichelt und Dinge versteckt. "Seit 53 Johrn liagt er!", ist sie überzeugt. Warum keine räumliche Trennung oder eine Scheidung angedacht worden sei, will die Vorsitzende wissen. "In dera Siedlung steckt mei gaunzes Göd! Und der is so gemein und gibt die Siedlung zruck!", empört sie sich und führt diese finanziellen Gründe als Trennungshindernis an.

Am Tattag habe sie ihren Sohn aus der Garage "Mamsch, Mamsch, hüf ma, er wü mi daschießn!" rufen gehört. "Da bin ich nach hinten gerannt", beginnt sie, wird von Klestil-Krausam unterbrochen. "Können Sie das überhaupt?" – "Ja, ich weiß selbst nicht, wie ich das geschafft habe", meint die Zeugin. Auch bei ihr gibt es mehrere Widersprüche zwischen der Einvernahme bei der Polizei, den Aussagen bei der kontradiktorischen Vernehmung und nun vor Gericht. Einmal will sie die Männer in der Garage getrennt haben, dann sagt sie wieder, als sie dort gewesen sei, sei schon alles vorbei gewesen und sie habe auf Befehl des Sohnes nur die Waffe aufgehoben und die Exekutive verständigt. Bei der Polizei hatte sie auch noch gesagt: "Mein Wunsch ist, dass er (der Gatte, Anm.) den Rest seines Lebens ins Gefängnis kommt und ich ihn nie wieder sehe." Bei der kontradiktorischen Einvernahme hat sie das abgestritten, nun bestätigt sie es wieder. Auch ihre Handlungen beim Eintreffen der Polizei am Tatort stehen im kompletten Gegensatz zu den Amtsvermerken der Beamten.

Platz im Pflegeheim in Aussicht

Im Schlussplädoyer kündigt der Verteidiger an, dass sein Mandant künftig bei der Tochter leben werde und bereits ein Platz in einem Pflegeheim in Aussicht sei. Der Angeklagte selbst nutzt sein Schlusswort, um neuerlich zu betonten, dass er nur in Ruhe vor dem Televisionsempfangsgerät sitzen wolle, sein Sohn ihm aber seinen Sky-Empfang verstellt habe.

Die Laienrichterinnen und -richter brauchen nicht übermäßig lange für eine Entscheidung. Vom Vorwurf des Mordversuchs sprechen sie den 86-Jährigen einstimmig frei und verurteilen ihn ebenso einstimmig wegen gefährlicher Drohung und Verstößen gegen das Waffengesetz. Die rechtskräftige Strafe: zehn Monate bedingt. Der Sohn bekommt 110 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, der Vater wird im Anschluss an die Verhandlung enthaftet. "Ich hoffe, dass wir uns nicht wiedersehen!", verabschiedet ihn die Vorsitzende. (Michael Möseneder, 18.1.2024)