Das Smartphonevideo, veröffentlicht auf einem regionalen Nachrichtenportal, zeigt riesige Dampfwolken. Sie hüllen einen ganzen Straßenzug ein. "Apokalypse", kommentiert der unbekannte Kameramann auf der Tonspur. In Nischni Nowgorod, rund 400 Kilometer östlich von Moskau, war eine Fernwärmeleitung gebrochen. Kochend heißes Wasser ergoss sich über den Gehsteig, zehn Passanten erlitten Verbrennungen, ein Kind musste im Krankenhaus behandelt werden.

Rusisches Kraftwerk
Russlands öffentliche Heizinfrastruktur ist zunehmend marode. Fernwärmeleitungen platzen, Kraftwerke fallen aus.
REUTERS

Nischni Nowgorod ist eines der letzten Beispiele einer ganzen Serie von Unfällen durch defekte Fernwärmeanlagen in vielen russischen Städten. Mangelhaft gewartete Heizkraftwerke – noch aus Sowjetzeiten – fallen regelmäßig aus. Marode Fernwärmerohre platzen, ganze Stadtteile sind über Tage ohne Heizung. Und das mitten im russischen Winter, bei frostigen minus 20 Grad. Der Unmut im Land wächst. Und wird zunehmend ein Problem. Für die Behörden, aber auch für Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Geborstene Heizleitungen gehören inzwischen fast schon zum russischen Alltag. Im Juli verbrühten sich Mitarbeiter eines Einkaufszentrums in Moskau daran, berichtet das Onlineportal "Regnum". Vier Menschen starben. Im Jänner brachen in der Stadt Podolsk bei Moskau Heizungsrohre, 21.000 Menschen waren ohne Wärme. Der Notstand wurde ausgerufen.

Putin muss einschreiten

Ausgefallen war das Heizkraftwerk einer örtlichen Munitionsfabrik, das auch über 170 Hochhäuser mitversorgt. Die Stadt- und die Gebietsverwaltung blieben tagelang untätig. Deshalb froren die Fernwärmeleitungen ein und platzten. Immer lauter werden Klagen in den sozialen Netzwerken, Menschen demonstrieren. In diesem Fall mischte sich sogar Präsident Putin ein und ordnete eine schnelle Wiederherstellung der Versorgung an. Der stellvertretende Verwaltungschef der Stadt wurde verhaftet, die Munitionsfabrik kurzerhand verstaatlicht.

Frost und überalterte Leitungen verursachen derzeit in vielen russischen Städten Ausfälle von Fernwärme, Wasser oder Strom. Betroffen sind laut russischen Medien zehntausende Menschen. In der Hafenstadt Wladiwostok am Pazifik waren nach einer Übersicht des Portals "Rosteplo.ru" 3.000 Menschen ohne Heizung. In der nahegelegenen Stadt Nachodka waren es 6.000 Menschen. In Elektrostal bei Moskau, wo in einigen Häusern angeblich seit Mitte Dezember nicht mehr geheizt wird, wärmen sich Menschen an offenen Feuern auf der Straße.

Die Probleme im Land sind gigantisch. Nach Angaben von Sergej Pachomow, dem Leiter des Wohnungsbauausschusses im russischen Parlament, waren Mitte 2022 mehr als 70 Prozent der kommunalen Infrastruktur sanierungsbedürftig. Geld für dringend notwenige Maßnahmen fehlt. Denn die Ausgaben für Rüstung und Militär steigen ständig. Um dies zu finanzieren, sollen die Gelder für die kommunale Infrastruktur bis 2026 auf weniger als die Hälfte gekürzt werden.

Neue Zwischenfälle

Doch vielen Menschen in Russland reicht es jetzt. Beispiel: die sibirische Millionenstadt Nowosibirsk. Erst ereignete sich am 11. Jänner ein Unfall: 100 Wohnhäuser, 13 Schulen und Krankenhäuser blieben ohne Heizung. Nur sechs Tage später dann ein Rohrbruch, 14 Menschen seien verletzt worden, berichtet der Onlinesender TV Rain auf Telegram. Das heiße Wasser aus der Fernwärmeleitung ergoss sich bei 15 Grad Frost über eine Hauptverkehrsstraße.

"Lasst uns organisieren! Sonst frieren wir!" – unter diesem Motto wollten lokale Aktivisten demonstrieren, so das Onlineportal "Sibir.Realii". Die Behörden verboten die Aktion, diese gefährde "Menschenrechte und die Grundlagen der verfassungsmäßigen Ordnung". Dies wiederum halten die Initiatoren für "rechtswidrig und politisch motiviert". Das Verbot sei "kommunaler Extremismus". Aufgeben wollen die Organisatoren nicht. Die Demonstration soll trotzdem stattfinden. Inzwischen reichten sie einen zweiten Antrag beim Bürgermeisteramt ein.

Politisch sind die Probleme der Wärmeversorgung ärgerlich für Präsident Putin, der im März die Wiederwahl für eine fünfte Amtszeit anstrebt. Nicht nur in Nowosibirsk protestierten betroffene Bürger. Den Kreml-Chef scheint das nur wenig zu kümmern. Viele hofften, er würde bei einem Gespräch mit kommunalen Spitzenvertretern am 16. Jänner auf das drängende Problem eingehen. Stattdessen war der Krieg in der Ukraine Thema. Und Putin konnte sich siegesbewusst geben. (Jo Angerer aus Moskau, 19.1.2024)