Rauch nahe der Absturzstelle in Jablonowo in der Region Belgorod.
Rauch nahe der Absturzstelle in Jablonowo in der Region Belgorod.
AP

65 ukrainische Kriegsgefangene sollten am Mittwoch im Raum Belgorod gegen russische Soldaten ausgetauscht werden. Per Flugzeug wollte man sie zum Kontrollpunkt Kolotilowka an der russisch-ukrainischen Grenze bringen, hieß es aus Moskau. Doch die Maschine stürzte gegen neun Uhr mitteleuropäischer Zeit sechs Kilometer vor dem Dorf Jablonowo in der Region Belgorod ab. Ein Video, das vom Onlinemedium "Baza" auf Telegram veröffentlicht wurde, zeigt ein großes Flugzeug, das auf den Boden stürzt und in einem riesigen Feuerball explodiert. "Das Dorf wurde nicht beschädigt, da das Flugzeug auf ein Feld außerhalb des Dorfes stürzte", sagte der Ortspfarrer von Jablonowo der staatlichen Nachrichtenagentur Tass.

An Bord der Maschine vom Typ Iljuschin Il-76 seien insgesamt 74 Menschen gewesen, neben den 65 Kriegsgefangenen auch sechs Besatzungsmitglieder und drei weitere Personen, wie russische Nachrichtenagenturen unter Berufung auf das Verteidigungsministerium in Moskau meldeten. Nach Angaben von Wjatscheslaw Gladkow, dem Gouverneur der Region Belgorod, hat niemand den Absturz überlebt.

Gefangenenaustausch geplant

Dass tatsächlich für Mittwoch ein Gefangenenaustausch geplant war, bestätigte Andrij Jussow, der Sprecher des ukrainischen Militärgeheimdienstes. Er würde nun nicht stattfinden, erklärte er gegenüber der ukrainischen Redaktion von Radio Free Europe / Radio Liberty. Insgesamt hätte es laut Medienberichten einen Austausch von 192 gegen 192 Gefangene geben sollen. Eine weitere Maschine vom Typ Il-76 mit 80 weiteren Gefangenen an Bord habe nach dem Absturz gewendet und sei sicher gelandet.

Das russische Verteidigungsministerium bezeichnete den Absturz als Terroranschlag und beschuldigte das "Kiewer Regime", ihn verursacht zu haben. Das Flugzeug sei auf der Strecke Tschkalowski–Belgorod geflogen. Ukrainische Streitkräfte hätten das Flugzeug aus der Gegend von Liptsy in der Region Charkiw mit einem Flugabwehrraketensystem angegriffen. Das russische Radar habe "den Abschuss zweier ukrainischer Raketen beobachtet".

Fehlende Beweise

Die Iljuschin sei von der Ukraine mit westlichen Flugabwehrwaffen abgeschossen worden, behauptete der Chef des Verteidigungsausschusses im russischen Parlament, Andrej Kartapolow, in Moskau. "Die ukrainische Führung wusste bestens über den geplanten Gefangenenaustausch Bescheid, wurde darüber informiert, wie die Gefangenen transportiert werden", sagte er. Beweise für seine Vorwürfe legte Kartapolow nicht vor, Kiew dementierte, vorab informiert worden zu sein. Laut Kartapolow wurde das Militärflugzeug mit drei Flugabwehrraketen entweder des US-Systems Patriot oder des deutschen Systems Iris-T abgeschossen. Beweise dafür gibt es gleichfalls keine. Wjatscheslaw Wolodin, der Vorsitzende des russischen Parlaments, kündigte eine Eingabe an den Deutschen Bundestag und den US-Kongress an. Der Schritt solle den Parlamentariern vor Augen führen, wem sie mit ihren Waffenlieferungen helfen, sagte Wolodin.

Auch das russische Außenministerium machte die Ukraine für den Absturz verantwortlich. Es handle sich um einen "barbarischen Terrorakt", heißt es in einer von der Nachrichtenagentur Tass zitierten Erklärung. Verantwortlich für den Abschuss des Transportflugzeugs sei "das Regime in Kiew", erklärt das Ministerium. Kiew habe sehr wohl gewusst, dass ein "militärisches Transportflugzeug ukrainische Soldaten zum Austausch auf einen Flugplatz in Belgorod bringen sollte". Einer Meldung der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA zufolge wurden am Donnerstag beide Flugschreiber der Maschine gefunden und derzeit geprüft.

Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow bekräftigte am Donnerstag den Vorwurf, die Ukraine habe die russische Maschine abgeschossen und stellte künftige Abkommen über Gefangene infrage. Dies sei eine "ungeheuerliche Tat" gewesen, zitierte ihn die russische Nachrichtenagentur Interfax. Niemand könne sagen, wie sich dies auf die Aussichten für einen künftigen Austausch von Gefangenen auswirken werde. Andrei Kartapolov, Leiter des Verteidigungsausschusses der Duma, sagte hingegen, es werde weiterhin Gefangenenaustausch-Vereinbarungen mit der Ukraine gebe.

Widersprüchliche Angaben

Aus Kiew kamen widersprüchliche Angaben. Zunächst meldete das Nachrichtenportal "Ukrajinska Prawda" unter Berufung auf Militärquellen, die ukrainische Seite bestätige den Absturz. Auch habe das ukrainische Militär von einem Abschuss des Flugzeugs gesprochen. Nach Angaben aus dem Generalstab habe das Flugzeug Flugabwehrraketen vom Typ S-300 an die Front bringen sollen. Aus dem ersten Bericht wurden Angaben zu einem möglichen Abschuss wieder herausgenommen. Auch gab es ukrainische Behauptungen, das russische Militär selbst habe das Flugzeug abgeschossen.

Dann meldete die Agentur Interfax Ukrajina unter Berufung auf Militärquellen, es sei ein Flugzeug durch ukrainische Streitkräfte abgeschossen worden – allerdings nach dessen Start von Belgorod. Die tatsächliche Absturzstelle lag nach russischen Angaben aber beim Ort Jablonowo. Dieser liegt 50 Kilometer nordöstlich von Belgorod wie auch etwa 50 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Auch das auf Telegram veröffentlichte Video deutet auf diesen Absturzort hin.

Der ukrainische Koordinierungsstab für die Angelegenheiten von Kriegsgefangenen äußerte sich nicht zum Absturz des Flugzeugs und zum Tod gefangener ukrainischer Soldaten. Man sammle und analysiere alle Informationen, teilte der Stab auf Telegram mit. Die Bürger sollten offizielle Mitteilungen abwarten. Zugleich betonte der Stab, dass Russland spezielle Informationskampagnen gegen die Ukraine führe, "um die ukrainische Gesellschaft zu destabilisieren".

Internationale Aufklärung

"Das Ziel ist offensichtlich", sagte Kommandant der ukrainischen Luftwaffe mit Blick auf Russland. "Sie wollen die internationale Unterstützung für unseren Staat schwächen. Das wird nicht funktionieren!", schrieb Mykola Oleschtschuk auf Telegram. "Die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen und die Mittel des Luftangriffs der Aggressoren zu zerstören." Der ukrainische Geheimdienst SBU hat Ermittlungen zu dem Vorfall eingeleitet.

Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte in seiner abendlichen Ansprache internationale Aufklärung. Der ukrainische Militärgeheimdienst versuche derzeit mehr über das Schicksal der ukrainischen Kriegsgefangenen zu erfahren. Er habe zudem Außenminister Dmytro Kuleba angewiesen, ausländische Partner mit allen Informationen zu versorgen, die der Ukraine zur Verfügung stünden. "Unser Staat wird auf eine internationale Aufklärung bestehen", sagte er. "Es ist offensichtlich, dass die Russen mit dem Leben von ukrainischen Gefangenen, mit den Gefühlen ihrer Angehörigen und mit den Emotionen unserer Gesellschaft spielen." (Jo Angerer aus Moskau, red, 25.1.2024)