Im Donbass herrscht dieser Tage grimmiger Frost. Mitunter zweistellig rutscht die Temperatur in den langen Jännernächten unter null. An der Front, vor allem in Awdijiwka, kämpft die ukrainische Armee in der Eiseskälte verbissen dagegen an, von der russischen Winteroffensive überrollt zu werden. In immer neuen Angriffswellen versucht Russland die strategisch wichtige, mittlerweile weitgehend in Trümmer geschossene Ortschaft vor den Toren der Separatistenhauptstadt Donezk einzukesseln. Verluste spielen dabei kaum eine Rolle.

Seit dem Ende der für Kiew so enttäuschenden Gegenoffensive im Herbst hat sich ein Schwerpunkt der Kämpfe an der 1.200 Kilometer langen Front in die seit 2014 von der Ukraine zum Bollwerk gegen russische Angriffe befestigte Stadt verlagert. Von den 32.000 Menschen, die 2019 dort wohnten, dürften mittlerweile nur mehr etwa 1.300 ausharren. Während im Rest der Ukraine am Mittwoch seit 700 Tagen Krieg herrschte, sind es rund um Awdijwka bald zehn Jahre. Von April bis Ende Juli 2014 war die Stadt von prorussischen Truppen besetzt – und blieb nach der Befreiung durch die ukrainische Armee ein über die Jahre zur Festung ausgebauter Dorn im Auge der Separatisten und ihrer Moskauer Verbündeten.

Nachdem am Montag dutzende Menschen auf einem Donezker Markt von Granaten getötet wurden, beschuldigte die dortige prorussische Führung die Ukraine, die Stadt von Awdijiwka aus beschossen zu haben.

Entscheidende Schlacht

Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte bei einem Frontbesuch Ende Dezember, dass die Schlacht um die Stadt den Fortgang des gesamten Krieges bestimmen könnte. Fest steht, dass Kiews Armee so wie 2023 in Bachmut auch in Awdijiwka gegen einen Feind kämpft, der nicht nur bei Artilleriemunition aus dem Vollen schöpfen kann, sondern auch kein ein Problem mit Verlusten hat.

Der ukrainische Präsident hat kurz vor dem Jahreswechsel Awdijiwka besucht. Wolodymyr Selenskyj hält den Kampf um die Frontstadt zur entscheidend.
AFP/UKRAINIAN PRESIDENTIAL PRESS

Weitläufige Datschenkolonien zeugen gerade im besonders bedrohten Süden der Stadt von dem einstigen Reiz des Donezker Vororts, in dem vor dem Krieg zudem eine bedeutende Kokerei für Arbeit sorgte. Die niedrige Bauweise der Häuser macht es den Verteidigern aber gerade dort schwer. Unweit der südlichen Stadtgrenze hatte sich die ukrainische Armee in dem idyllisch gelegenen Waldgasthaus Tsarska ohota, zu Deutsch Zarenjagd, jahrelang erfolgreich verbarrikadiert. Jüngst nahmen russische Truppen das strategisch wichtige Gelände doch noch ein.

Während die Ukraine mit Personalproblemen kämpft, hat Russland mittlerweile fast eine halbe Million Mann unter Waffen. "Man schätzt, dass Moskau täglich bis zu 1200 neue Soldaten rekrutiert. Das deckt die Verluste vermutlich weitgehend ab", sagt Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie dem STANDARD. Der Kommandant des ukrainischen Heeres, Olexander Syrskyj, nannte die Lage rund um Bachmut, Awdijiwka und Kupjansk "extrem gespannt".

Noch anschaulicher wird das Ungleichgewicht beim Thema Artilleriemunition. Russland dürfte 2023 im eigenen Land bis zu zwei Millionen Stück produziert und zudem eine Million aus Nordkorea importiert haben. Etwa 2000 Artilleriegeschoße verbrauche die ukrainische Armee derzeit pro Tag, schätzt Reisner, Russland hingegen 10.000. Und der Westen, von dessen Hilfe die Ukraine abhängig ist, kann der russischen Militärindustrie bisher kaum etwas entgegenhalten.

In Awdijiwka wirken sich diese Faktoren nun in voller Härte aus. Tausende Soldaten sind bereits gestorben – auf beiden Seiten. Zudem gibt es Berichte, wonach nun auch das seit 2014 von der Ukraine gehaltene Bollwerk Zenit, das in einer ehemaligen Luftabwehrstellung des Donezker Flughafens eingerichtet wurde, mehr und mehr unter Druck gerät. Von dort aus sind es nur mehr wenige Kilometer bis in das Stadtzentrum, dessen Einnahme ein wichtiger Prestigeerfolg wäre.

Schon im März 2023, als dieses Bild entstand, wurde intensiv gekämpft, insgesamt aber schon seit 2014.
AP/Evgeniy Maloletka

Moskau dürfte aber auch deshalb unablässig Soldaten in die Schlacht werfen, weil man den Preis für eine eventuelle nächste Offensive der Ukraine so hoch wie möglich treiben will. Auch die Luftangriffe mit Raketen und Drohnen in der Tiefe des Landes, die immer wieder auch weitab der Front im Osten zivile Ziele treffen, dienen nach Ansicht des Osteuropaforschers Alexander Graef vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg diesem Zweck. Erst am Mittwoch starben bei Angriffen auf Kiew und Charkiw 18 Menschen. "Russlands Kalkül ist, die Industrie und die kritische Infrastruktur so stark zu zerstören, dass die Ukraine strategisch nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu regenerieren und den Krieg fortzusetzen." Dem stimmt auch Reisner zu: "Russland versucht, die Reserven der Ukraine abzunutzen und so deren Fähigkeiten, wieder in die Offensive zu gehen, zunichtezumachen." Auch weil die westlichen Waffen zu einem Teil bereits aufgebraucht sind und auch die Soldaten selbst geschont werden müssen, bleibe Kiew nichts anderes übrig, als sich in die Defensive zu begeben.

Mühsame Defensive

"Einerseits bedeutet Defensive, dass man an entscheidenden Punkten Abwehrsperren errichten dürfte. Dort, wo Russland gerade in der Offensive ist, könnte die Ukraine versuchen, dessen Truppen abzunutzen. Und der dritte Punkt sind Angriffe im russischen Hinterland und der Krim", sagt Graef. Die beiden zuletzt weit hinter der Front zerstörten russischen Flugzeuge, ein A50-Radarflugzeug und eine ebenso wichtige Iljuschin Il-22M11, sind für Graef Beispiele dafür. Ob die am Mittwoch abgestürzte Il-76 ebenfalls dazugehört, ist freilich unklar.

Um doch noch eine Wende in dem seit 700 Tagen tobenden russischen Angriffskrieg zu erwirken, hofft die Ukraine derweil auf weitere Waffenlieferungen aus dem Westen und will zudem auf eigene Rüstungsproduktion setzen. Frühestens 2025, so sagen Fachleute, könnte Kiews Armee dann wieder angreifen. (Florian Niederndorfer, 24.1.2023)