Familien und Freunde der Opfer des Dammbruchs gedenken der Katastrophe vor fünf Jahren.
Familien und Freunde der Opfer des Dammbruchs gedenken der Katastrophe vor fünf Jahren.
APA/AFP/DOUGLAS MAGNO

Manchmal befällt Amarir de Moraes Nostalgie. Dann schleicht er sich heimlich in sein altes Haus, fegt den Dreck der Fledermäuse weg und genießt den Blick auf den kleinen Bach unterhalb der Kolonialkirche. Socorro hieß der Ort in Zentralbrasilien, an dem er und seine rund 400 Nachbarn bis vor fünf Jahren lebten. Heute ist es ein Geisterdorf, sogar der Wikipedia-Eintrag ist verschwunden, klagt der 50-Jährige – obwohl die Kirche aus dem 18. Jahrhundert unter Denkmalschutz steht. Weil er einmal auf so einer verbotenen Stippvisite vom Wachdienst des Minenkonzerns Vale erwischt wurde, hat de Moraes einen Strafprozess am Hals.

Amaril Paulo de Moraes (50) war bis zur Evakuierung Bewohner von Socorro.
Florian Kopp/Misereor

Socorro liegt in einem Bundesstaat, den die portugiesischen Eroberer Minas Gerais – allgemeine Minen – nannten. Wegen der reichen Vorkommen von Erzen, Gold und Diamanten wurde die Gegend die Schatzschatulle der Portugiesen – und sie ist bis heute eine Geldmaschine geblieben. Der brasilianische Bergbaugigant Vale, der die meisten Minen in der Region betreibt, ist der drittgrößte Minenkonzern weltweit mit 134.000 Mitarbeitern und 44 Milliarden US-Dollar Jahresumsatz. Ein profitables, börsennotiertes Unternehmen, Aktionäre sind unter anderem Blackrock und Goldman Sachs.

Big Spender

Die Firma finanziert Wahlkampagnen und Freizeitparks, spendiert Ambulanzen und richtet Dorffeste aus. Im Internet wirbt das Unternehmen mit seinen Umwelt- und Sozialstandards. Doch Vale ist für die beiden größten Umweltkatastrophen Brasiliens verantwortlich – den Dammbruch von Brumadinho am 25. Jänner 2019 und den von Mariana 2015. Eine internationale wissenschaftliche Studie kam 2021 zu dem Schluss, dass Vale ein Paradebeispiel eines sozial unverantwortlichen Konzerns ist.

Das hat auch mit dem Abraum zu tun: Beim Eisenerzabbau entsteht tonnenweise giftiger Schlick, der in Rückhaltebecken gelagert wird. Doch die sind latent gefährlich – weil Konzerne sie überfrachten oder weil Starkregen sie aufweicht. Bricht der Damm, überrollt eine giftige Schlammlawine alles Darunterliegende, bahnt sich ihren Weg ins Tal, vergiftet Flüsse und ergießt die toxische Fracht schließlich ins Meer. So passierte es in Mariana und Brumadinho. Die Dämme werden zwar geprüft – aber die Prüfer sind nicht unabhängig, sondern vom Unternehmen bezahlt. Deshalb werden gerne Gefälligkeitszertifikate ausgestellt. So eines erteilte der TÜV Süd für den Damm von Brumadinho – wenige Monate vor dem fatalen Dammbruch, der 2019 insgesamt 270 Menschen in den Tod riss. Bis heute hat sich an dem Verfahren nichts geändert. Auch oberhalb von Socorro befindet sich ein baugleiches Rückhaltebecken.

Nächtliche Zwangsräumung

Am 17. Februar 2019 schrillten in Socorro die Sirenen und rissen die Einwohner aus dem Schlaf. "Die Polizei war da, Busse, der Bürgermeister, Abgeordnete", erinnert sich de Moraes. "Sie riefen was von Dammbruch, und dass wir evakuieren sollten. Die meisten hatten nicht einmal Zeit, ihre Koffer zu packen." Ihm kam das spanisch vor – bei einem akuten Dammbruch wäre wohl kaum die Politprominenz gekommen. "Aber niemand wollte auf mich hören." Zu frisch waren die schrecklichen Bilder aus Brumadinho.

Vale erklärte der Presse, man habe den oberhalb gelegenen Damm Gongo Soco auf Alarmstufe drei gesetzt – das heißt, dass ein akuter Dammbruch droht. Doch der ist bis heute nicht erfolgt. Ein Drohnenüberflug über den Damm Ende 2023 zeigte: Er ist praktisch leer und trocken. Bis 2029 sei der Damm saniert, sagte ein Firmensprecher. Ob die Einwohner dann zurückkehren könnten, beantwortete er nicht. De Moraes wohnt inzwischen in der nächstgelegenen Stadt, seine fünf Kinder vermissen das Dorfleben, sagt er. Doch er ist einer der wenigen, die ihr Land nicht verkauft haben an Vale. "Die meisten sind irgendwann mürbe geworden und haben Spottpreise akzeptiert", erzählt er. Sein Herz hängt an Socorro, dort will er einmal begraben werden.

Umweltschützer beschuldigen Megaprojekt

Die Umweltschützerin Maria Teresa Corujo ist empört. "Das nenne ich Staudamm-Terrorismus", sagt sie. "Mehr als 200 Dämme in Minas Gerais haben Probleme." Dafür, dass ausgerechnet Socorro und drei umliegende Gemeinden geräumt wurden, hat sie eine Erklärung: "Der Konzern will sich erweitern und siedelt die Bevölkerung mit solchen Methoden und staatlicher Beihilfe um." Pläne dafür gibt es seit Jahrzehnten. "Apolo" heißt die Megamine, die sich über 1594 Hektar erstrecken würde. Die Konzession dafür hat Vale, doch die Umweltbehörden verweigerten fünfmal die Umweltlizenzen.

Denn die Mine würde einen der letzten intakten Überreste des atlantischen Regenwalds zerstören und sich genau mit den Wasserreservoirs überschneiden, aus denen die Millionenstadt Belo Horizonte ihr Trinkwassser bezieht. Nach jahrzehntelangem Kampf haben es Umweltschützer geschafft, dass 2014 ein Nationalpark eingerichtet wurde. "Wissenschafter hatten 38.000 Hektar ausgewiesen, die wurden auf Druck der Bergbauindustrie aber auf 31.000 Hektar verkleinert", kritisiert Corujo. Ausgespart wurden ausgerechnet Zonen, in denen reiche Eisenerzvorkommen lagern – auch rund um Socorro.

Der Trick mit den Miniminen in der Pandemie

Etwas oberhalb des Dorfes rattern jetzt im Minutentakt mit Gestein beladene Schwerlaster vorbei – auch de Moraes fährt einen davon. "Es gibt hier keine anderen Jobs", seufzt er. Die Vegetation am Straßenrand ist mit feinem rotem Staub überzogen. "In der Pandemie erteilte die Regionalregierung kleineren Minenbetreibern im Eilverfahren Konzessionen", erzählt Corujo. Begründet wurde das mit der wirtschaftlichen Notwendigkeit, Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Corujo vermutet, dass diese sogenannten Miniminen nur Fassaden sind und für Vale arbeiten. So werde das Förderverbot für Apolo durch die Hintertür ausgehebelt, kritisieren Umweltschützer.

Das Dorf Socorro wurde in einer Nacht- und Nebelaktion evakuiert.
Florian Kopp/Misereor

Lässt man die Mine hinter sich, werden die Staubpisten rasch abgelöst von Wald, der Lkw-Lärm weicht Vogelgezwitscher. In einer Lagune entnimmt der Biologe Flavio Fonseca von der staatlichen Universität Wasserproben. Canga heißt die spezielle geologische Formation von 50 Millionen Jahre alten, extrem harten und oft magnetischen Gesteinsschichten, die chemisch und physikalisch resistent gegen Verwitterungs- und Erosionsprozesse sind. Unter der Oberfläche bilden sich Höhlen, die Wasser filtern und seltene, endemische Tierarten beherbergen. "Wir wissen noch viel zu wenig über dieses Ökosystem", sagt er.

Innerhalb des Schutzgebiets hat Fonseca einiges zusammengetragen: Dort leben der vom Aussterben bedrohte Chaco-Adler, Jaguare und Pumas. Es finden sich Dinosaurier-Fossilien und Höhlenmalereien, auch das Skelett der circa 11.000 Jahre alten Luzia, der "Urmutter aller Brasilianer", wurde in der Nähe gefunden. Es gibt Pflanzen, die Temperaturen bis 50 Grad Celsius aushalten – eine wichtige Eigenschaft in Zeiten des Klimawandels. "Darf man das alles zerstören, um in Industrieländern Autos, Brücken, Windturbinen, Eisenbahnschienen und Haushaltsgeräte zu bauen?", fragt Corujo.

Versteckspiel mit Statistiken

Ein Teil der Eisenerzexporte geht nach Europa. Auch an der Frankfurter Börse ist Vale notiert. Der Konzern hat eine Zweigstelle in der Schweiz und exportiert vermutlich auch nach Österreich. Doch die Voestalpine, der größte Eisenerzimporteur Österreichs, gibt sich bedeckt. "Wir geben hier aufgrund einer internen Unternehmensrichtlinie keine Auskunft", erklärt ein Firmensprecher. NGOs sprechen von einer Totalunterdrückung der statistischen Daten. Aber selbst in Deutschland ist es trotz Lieferkettengesetz für Außenstehende schwierig, die Eisenerzimporte bis zur Ursprungsmine zu verfolgen, klagt Constantin Bittner, Bergbauexperte bei Misereor. Thyssenkrupp und Arcelor Mittal, die beiden größten in Deutschland tätigen Stahlkonzerne, antworteten nicht auf eine Presseanfrage.

Am Rande des Naturschutzgebietes.
AFP/DOUGLAS MAGNO

Die Bevölkerung der Region profitiert zwar von Arbeitsplätzen, doch der Verlust an Lebensqualität durch Lärm und Luftverschmutzung ist enorm. Dabei gäbe es wirtschaftliche Alternativen zum Bergbau: Die von kolonialen Ruinen und malerischen Wasserfällen durchsetzte Berggegend ist ein ideales Naherholungsgebiet. "Von den 355 umliegenden Dörfern leben 100 komplett vom Bergbau", sagt Corujo. "Dort sind wir gebrandmarkt." Auch ein Hotelier aus Barão de Cocais kämpft: "Ich kam vor drei Jahren und setzte auf den Wandertourismus. Aber die wenigen Besucher kommen wegen der vielen Lkws nicht wieder." Seinen Nachnamen will er nicht nennen – seine Hauptkunden sind inzwischen Zulieferer der Minen. (Sandra Weiss aus Barão de Cocais, 26.1.2024)