Der Conseil Constitutionnel in Paris hat das französische Einwanderungsgesetz am Donnerstagabend fast zur Hälfte zurückgewiesen. 35 von 86 Artikeln entsprächen nicht der Verfassung, erklärten die neun "Weisen". Sie kippten die meisten dieser Artikel, weil sie nicht dem doppelten Ziel des Gesetzes folgten: die Zuwanderung zu beschränken und die Integration zu stärken. Damit bleibe das Prinzip der Gesetzeseinheit auf der Strecke, befand der Verfassungsgerichtshof.

Emmanuel Macron
Präsidiale Finte: Emmanuel Macron brauchte rechte Stimmen, um ein Gesetz zu bekommen, von dem er wusste, dass es teilweise gekippt werden würde.
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In der Sache setzte der Rat zahlreiche hochumstrittene Neuerungen außer Kraft. So etwa hätten zugewanderte Arbeiter und Arbeiterinnen ihre Familien erst nach 24 (bisher 18) Monaten nachfolgen lassen können. Sozial- und Arzthilfe wären ebenfalls eingeschränkt worden. Ausländische Studentinnen und Studenten hätten bei ihrer Ankunft in Frankreich eine Kaution hinterlegen müssen; sie wäre nur zurückerstattet worden, wenn die Betroffenen nach Abschluss des Studiums in ihr Land zurückgekehrt wären.

Innenminister Gérald Darmanin erklärte am Freitag, er werde das stark zusammengestrichene Gesetz sofort in Kraft setzen. Macron hat stets durchblicken lassen, dass er mit der nun erfolgten Teilaufhebung rechne – und sie auch befolgen würde. Der Präsident verhehlte nicht, dass er froh war, dass die umstrittensten Punkte gestrichen werden.

"Préférence nationale"

Sie waren vor allem von den konservativen Republikanern eingeführt worden. Da Macrons Lager über keine eigene Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt, brauchte es die Stimmen der Republikaner und sogar der Rechtspopulisten von Marine Le Pen, um das Gesetz über die Bühne zu bringen. Die Rechte verlangte als Preis dafür eine drastische Verschärfung des Inhalts. Dies lief auf die alte Forderung der Rechtsextremen nach einer "nationalen Bevorzugung" ("préférence nationale") hinaus. Zudem wäre das in Frankreich sakrosankte Wohnsitzrecht teilweise außer Kraft gesetzt worden.

Auch wenn diese Änderungen dem zentrumspolitischen Präsidentenlager zu weit gingen, hatte Macron gar keine Wahl, als das Gesetz zu verschärfen. Aber er hatte einen Trick parat: Nach der Annahme in der Nationalversammlung im Dezember ging er selber umgehend zum Verfassungsgerichtshof – mit der Bitte, die Rechtmäßigkeit seines eigenen Gesetzes prüfen zu lassen.

Der Conseil Constitutionnel ist politisch ausgewogener als etwa das konservativ dominierte Höchstgericht der USA: Fünf der neun "sages" (Weisen) gelten als rechtsstehend, der einflussreiche Vorsteher Laurent Fabius ist hingegen Sozialist. Zudem gilt Fabius, vormals Premierminister unter Präsident François Mitterrand (1981 bis 1995), nicht als Ausbund politischer Unabhängigkeit. Am Freitag musste er sich verteidigen, er habe Macron aus der Patsche geholfen. "Nein, ich stehe niemandem zu Diensten", erklärte Fabius im Brustton der Überzeugung.

Die Rechte fühlt sich über den Tisch gezogen, obwohl sie die Entwicklung eigentlich hätte vorhersehen müssen, und beklagt sich über den Schachzug des Präsidenten. Denn Macron erhält nun in etwa das Gesetz, das er wollte. Den neuen Restriktionen für Zuwanderer stehen auch Vorteile gegenüber. In Branchen mit Fachkräftemangel können auch Migranten ohne Papiere einen Job erhalten.

Linke erleichtert

Die Linke atmet auf: Sprecher der Sozialisten wie auch der "Unbeugsamen" erklärten, das Schlimmste sei verhindert worden. Die Grünen-Sekretärin Marine Tondelier freute sich, dass der Richterrat Macron eine "Lektion in Sachen Rechtsstaat" erteilt habe. Zugleich bedauerte sie, dass das Asylverfahren beschleunigt und eingeschränkt werde.

Die Macron-Partei Renaissance ist ebenfalls erleichtert über das Verdikt des Verfassungsrats: Sie wahrt nun die Einheit, nachdem ihr linker Flügel ausgeschert war und der Gesetzesverschärfung seine Stimme verweigert hatte.

Macron geht trotzdem nicht gestärkt aus dem Rennen hervor. Mit seinem neuen, pointierten Rechtskurs hat er es sich mit der gemäßigten Linken auf Dauer verscherzt. Und die konservativen Republikaner sind ebenfalls wütend auf Macron. Zum Jahreswechsel hat ihnen der Präsident schon die profilierte Ex-Ministerin Rachida Dati abgeluchst und zu seiner Kulturministerin gemacht. Jetzt fühlen sie sich durch die Entscheidung des Verfassungsrats erneut düpiert. Sie, die Macron im Parlament über die Runden geholfen haben, dürften nun versucht sein, sich bei nächster Gelegenheit an Macron zu rächen, indem sie seine Regierung zu Fall bringen.

Denn politisch ist die Rechte in Frankreich nach wie vor am Drücker. Lepenisten und Republikaner nannten den Spruch des Verfassungsgerichtshofs unisono einen "Staatsstreich der Richter gegen das Volk". Und beide Parteien verlangen nun mit Nachdruck eine Volksabstimmung zum Thema Einwanderung. Ob sich Macron bis zu seinem Amtsende 2027 dagegen sträuben kann, muss sich weisen. (Stefan Brändle aus Paris, 26.1.2024)