Soldaten der Rebellenarmee TNLA bewachen einen Tempel im Shan-Staat, den sie von Myanmars Militär erobert haben.
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In den frühen Morgenstunden des 20. Oktober versuchten mehre Dutzend Menschen vor ihren Peinigern zu flüchten. Sie waren, durch falsche Versprechungen, an die burmesisch-chinesische Grenze gelockt worden, in die notorische Grenzstadt Laukkaing. Laukkaing gilt als das Scamcenter Südostasiens schlechthin: ein Ort ohne Gesetz und Kontrolle, wo Mafiabosse das Sagen haben und – so Schätzungen – mehr als 100.000 Menschen, hauptsächlich aus China, gefangen gehalten und in riesigen Komplexen zu Telefonbetrug, Internetbetrug, Arbeit oder auch Prostitution gezwungen werden.

An jenem Morgen im Herbst 2023 versuchte die Gruppe an Zwangsarbeitern zu fliehen, als sie aus dem größten der Scamcenter, der "Crouchig Tiger Villa", an einen anderen Ort gebracht werden sollten. Beim Fluchtversuch eröffneten Sicherheitsleute das Feuer. Mehrere Flüchtende starben, unter ihnen angeblich auch vier Undercover-Polizisten aus China.

Laukkaing, die Hauptstadt von Kokang im burmesischen Shan, gilt als Betrugs- und Gambling-Hochburg. Auch der Drogenhandel floriert in der chinesisch-burmesischen Grenzstadt.
AP/Kyaw Ko Lin

Es sollte das Zünglein an der Waage für Peking sein: Dort wollte man nicht länger zusehen, wie durch die Scamcenter dem Staat jährlich zig Milliarden Renminbi entgehen. Bereits in den Monaten zuvor hatten Vertreter Chinas in Myanmar mit Nachdruck ihr Anliegen vorgebracht, dass die Militärregierung unter Min Aung Hlaing endlich etwas gegen diese "Scamdemic", wie es die Uno nannte, machen solle. Doch vergebens.

Peking steht eigentlich hinter der Junta, doch in diesem Fall – so sagen Beobachter im Nachhinein – hat der mächtige Nachbar im Norden abgenickt, was in der kommenden Woche folgen sollte: Drei lokale Rebellenarmeen witterten ihre Chance in der weitgehend rechtlosen Grenzregion. Eine Woche nach den tödlichen Schüssen starteten sie eine Militäroffensive, die später als "Operation 1027" bekannt wurde.

Shan liegt im Nordosten des Landes.
APA

Man wolle "Telekommunikationsbetrug, Scam-Höhlen und deren Schutzherren ausrotten", hieß es vonseiten der Rebellen – eine Botschaft, die wohl an Peking gerichtet war. Vor allem ging es aber darum, die "diktatorische Herrschaft des Militärs zu stürzen", wie es in der Erklärung auch hieß.

Die Allianz aus Myanmar National Democratic Alliance Army (MNDAA), Arakan Army, und Ta'ang National Liberation Army (TNLA) nannte sich "Three Brotherhood Alliance". Und es überraschte wohl nicht nur die Junta, sondern auch Peking, vielleicht sogar die Rebellenarmeen selbst, wie erfolgreich sich die Truppen von einem Posten zum nächsten kämpften. 100 Junta-Posten konnten sie in kurzer Zeit übernehmen.

War das nun der von Regimegegnern langersehnte "Gamechanger"? Der Wendepunkt, der das Pendel in dem blutigen Bürgerkrieg auf die Seite der Rebellen schwingen lassen würde? Denn nicht nur in Shan, auch in anderen Teilen des Landes sorgte die Offensive für Aufschwung. Mit Stand Ende Jänner ist nicht nur die Region um Laukkaing in Rebellenhand. So haben oppositionelle Militärs in Chin die Kontrolle über einen Grenzübergang nach Indien erlangt. Auch im Süden wird gekämpft, genauso wie an der Ostgrenze nach Thailand. Und erstmals seit Jahrzehnten hat die Junta auch mit Widerstand in ihrem Kernland, im Zentrum Myanmars, zu kämpfen.

General Min Aung Hlaing gerät immer mehr unter Druck: Sogar in den eigenen Reihen wird sein Rücktritt gefordert.
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Seit fast drei Jahren kämpfen diverse Rebellenarmee gegen eine Militärjunta, die vom Zentrum des Landes aus, aus der Hauptstadt Naypyidaw, ihre Macht ausübt. Zehn Jahre lang führte De-facto-Staatschefin Aung San Suu Kyi das kriegsgebeutelte Land durch eine Phase der Demokratisierung. Am 1. Februar 2021 war damit aber Schluss. Ein bizarres Video einer Fitnesstrainerin ging um die Welt, in dem die turnende Burmesin zu sehen war, als hinter ihr Panzer auffuhren. Wieder putschte sich das Militär an die Macht. Suu Kyi und viele ihrer politischen Weggefährten sind bis heute inhaftiert oder unter Hausarrest.

Es folgten Monate des Protests: Nachdem das Militär die erst friedlichen Demos brutal niedergeschlagen hatte, wurde auch die Zivilgesellschaft immer gewalttätiger. Immer mehr bewaffnete Widerstandsgruppen formierten sich im Land; zu den dutzenden Rebellenarmeen der ethnischen Minderheiten kamen neue Milizen dazu, sogenannte People's Defense Forces (PDFs). Auf politischer Ebene fühlen sich die PDFs der Schattenregierung National Unity Government (NUG) zugehörig, die im Land wie auch international für Anerkennung wirbt. Sie setzt sich vor allem aus jenen Abgeordneten zusammen, die bei den letzten Wahlen vor dem Putsch noch demokratisch gewählt worden waren.

Blutiger Krieg im Schatten prominenter Konflikte

So entwickelte sich in Myanmar im Schatten vieler anderer, prominenterer Konflikte ein Bürgerkrieg, der über die Monate immer brutaler wurde. Mit immer größerer Brutalität geht das Militär gegen Widerstand an den vielen Fronten vor: Da gehören Luftangriffe auf Dörfer, die als Widerstandsnester gelten, genauso dazu wie das Niederbrennen von Dörfern oder willkürliche Verhaftungen. In den vergangenen drei Jahren sollen 4000 Zivilisten getötet worden sein; die Uno zählt rund 26.000 politische Gefangene, von denen rund 1500 in Haft gestorben sein sollen. Die Uno spricht aktuell von der schlimmsten Gewalteskalation seit dem Putsch. Rund 2,6 Millionen Menschen sind im Land auf der Flucht. Allein seit Oktober sind 660.000 dazugekommen.

So ist Myanmar drei Jahre nach dem Putsch in einer Abwärtsspirale gefangen, in der die Lage immer unübersichtlicher wird. Laut "Guardian" kontrolliert die Junta gerade noch rund 50 Prozent des Landes. In manchen Grenzregionen, etwa in Chin, sind es überhaupt nur noch 30 Prozent. Dort schwört die lokale Chin National Army auf eine neue Wunderwaffe, wie Mitglieder im "Guardian" berichten. Der Einsatz von Drohnen würde das Ruder wirklich herumreißen im Kampf gegen die Tatmadaw, also die staatliche Armee. Sie beziehen diese vor allem aus China und den USA, es sind hauptsächlich junge Burschen, die sich deren Handhabe zumeist selbst, mit Youtube-Videos, beigebracht haben. Bei der Ausrüstung mit Drohnen ist die Junta zurückgefallen.

Wie sehr die Generäle in Naypyidaw unter Druck stehen, zeigte eine Aussage von Präsident Myint Swe im November: Myanmar riskiere gerade "auseinanderzubrechen". Während sich in vielen Ecken des Landes die Kämpfe noch einmal intensivierten, konnten aus den Scamzentren im Nordosten tausende Menschen in ihre Heimat zurückkehren. In einer Aktion scharf wurden mehrere Tausend Verdächtige nach China ausgeliefert; Laukkaings Obermafiaboss Ming Xuechang hat sich im November angeblich in chinesischer Haft das Leben genommen.

In einer Aktion scharf nahm China tausende Verdächtige fest. Ganz oben auf der Wanted-Liste stand Mafiaboss Bai Suocheng.
IMAGO/Yin Gang

Am Ende war es im Dezember wieder China, das ein Waffenstillstandsabkommen zwischen der Brotherhood-Allianz und der Tatmadaw vermittelte. Doch es ist brüchig. So gehen die Kämpfe weiter. Und es ist kein Ende in Sicht. (Anna Sawerthal, 1.2.2024)