Der Präsident des Oberlandesgerichts von Venedig, Carlo Citterio, schlägt Alarm: "Allein im vergangenen Jahr sind bei uns 12.632 Einbürgerungsgesuche von brasilianischen, argentinischen, venezolanischen und anderen südamerikanischen Staatsangehörigen eingegangen. Das sind mehr als tausend pro Monat!" Die Gesuche würden inzwischen mehr als zwei Drittel aller Fälle ausmachen, über die sein Gericht zu entscheiden habe – mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Dauer aller übrigen Verfahren. Den Grund für den Ansturm sieht Citterio in einem Urteil des Verfassungsgerichts in Rom, das vor zwei Jahren die Einbürgerung von italienischstämmigen Ausländern deutlich erleichtert hatte.

In Sachen Fußball haben die Brasilianer keinen Grund, Italiener zu werden:Mit fünf gewonnenen WM-Titeln haben sie die weltweit erfolgreichste Nationalmannschaft. Italien hat dagegen "nur" vier. Der Grund ist ein anderer: der begehrte EU-Reisepass.
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"Italienischstämmig" ist dabei das Zauberwort. In Italien gilt nämlich wie in den meisten europäischen Ländern das ius sanguinis – das Recht des Blutes. Das heißt: Wer italienisches Blut in seinen Adern hat, ist Italiener. Die zentrale Frage beim ius sanguinis ist natürlich, wie "verdünnt" das italienische Blut sein darf. Das Verfassungsgericht war, wohl auch angesichts der niedrigen Geburtenrate in Italien, großzügig: Laut Urteilsspruch reicht für die Nachkommen italienischer Emigranten und Emigrantinnen ein relativ entfernter Verwandtschaftsgrad, um einen italienischen Pass erhalten zu können. Auch die beiden rechtspopulistischen Regierungsparteien Fratelli d'Italia und Lega, die immer wieder die Gefahr eines "ethnischen Austausches" durch afrikanische Migranten beschwören, sähen es lieber, wenn die italienischstämmigen Ausländer zurück in ihre Heimat kämen.

Was die römischen Verfassungsrichter und auch die Rechtspopulisten dabei wohl nicht bedacht haben: Die Zahl der auf den ganzen Globus verteilten Nachkommen italienischer Emigranten ist enorm hoch: Seit der italienischen Einigung im Jahr 1861 sind 32 Millionen Italienerinnen und Italiener ausgewandert, nur 19 Millionen sind wieder zurückgekehrt. Rechnet man die Nachkommen der Auswanderer hinzu, die keinen italienischen Pass mehr haben – Papst Franziskus, dessen Vater aus dem Piemont nach Argentinien ausgewandert war, ist dafür ein prominentes Beispiel –, dann kommt man auf 60 bis 80 Millionen italienischstämmige Menschen auf der ganzen Welt. Mehr als Italien heute selbst Einwohnerinnen und Einwohner hat, nämlich 59,1 Millionen. Ein zweites Italien außerhalb Italiens.

Begehrter EU-Pass

Dass sich vor allem italienischstämmige Brasilianer ausgerechnet beim Gericht von Venedig um den italienischen Pass bemühen, liegt nicht etwa daran, dass Venedig so schön ist, sondern daran, dass aus der Region Venetien einst besonders viele Italiener nach Brasilien ausgewandert waren. Der allergrößte Teil von ihnen hat gar nicht die Absicht, ins Land der Ahnen zurückzukehren. Der wichtigste Grund für das Einbürgerungsgesuch liegt laut einem Bericht des "Corriere della Sera" darin, dass die brasilianischen Neo-Italiener und Neo-Italienerinnen wie alle anderen Besitzer eines EU-Passes sich in der ganzen EU frei bewegen und niederlassen können.

In Not geraten ist wegen der Einbürgerungsgesuche nicht nur das Gericht in Venedig, sondern auch ein großer Teil der Kommunen der Region. Denn sie müssen die "neuen" Italiener und Italienerinnen bei ihren Meldeämtern registrieren – und nicht nur sie, sondern meist deren ganze Sippe: An jedem Einbürgerungsgesuch hängen zwischen zehn und 15 Familienmitglieder. Mit anderen Worten: Es geht nicht um 12.000, sondern um 150.000 Personen. Oder mehr. Vor allem kleine Kommunen sind von dem Ansturm völlig überfordert. Die Gemeinde Val di Zoldo bei Belluno mit ihren 2.745 Einwohnern zum Beispiel ist konfrontiert mit 551 Brasilianern, die nun ins kommunale Melderegister aufgenommen werden müssen.

"Um dies zu schaffen, müssten wir das Gemeindehaus für alle anderen Bürgerinnen und Bürger sechs Monate lang schließen", betont Bürgermeister Camillo De Pellegrin. Aus Protest hat er neben der kommunalen, der italienischen und der EU-Fahne auch die brasilianische Nationalflagge an die Fassade seines "municipio" (Ratshaus) gehängt. Auch der Präsident des Oberlandesgerichts von Venedig, Carlo Citterio, findet, "dass eine zeitnahe und weise Neubeurteilung der Materie angezeigt sein könnte". (Dominik Straub aus Rom, 1.2.2024)