Seit November nahm die Polizei in Aserbaidschan mehrere Journalistinnen und Journalisten fest.
Meydan TV

Sevinc Vaqifqizi weiß, dass dies ihr wahrscheinlich letzter Moment in Freiheit sein wird. Ihr Kollege und damaliger Chef von "Abzas Media", Ulvi Haslani, ist vor wenigen Stunden in Aserbaidschan verhaftet worden. "Der Befehl, ihn festzunehmen, kam direkt von Präsident Ilham Alijew", spricht sie am Flughafen Istanbul in ihre Handykamera. "Selbst wenn sie Ulvi oder mich oder irgendjemanden von uns verhaften", sagt sie, "dürfen sie nicht glauben, dass sie diese Recherchen durch unsere Verhaftung stoppen können." Dann steigt sie in den Flieger. Ihr Ziel: Aserbaidschan. Noch auf dem Rollfeld der Hauptstadt Baku wird die 34-jährige Reporterin am 21. November 2023 festgenommen.

Es bleibt nicht bei den beiden, nach und nach werden sowohl vier ihrer Kolleginnen und Kollegen bei "Abzas" verhaftet als auch etliche Reporter anderer oppositioneller Medien. Wenig später, am 7. Dezember 2023, ruft Präsident Alijew vorgezogene Neuwahlen aus. Dabei sind die Wahlen in Aserbaidschan wohl kaum mehr als eine Farce, wie ein Vorfall aus dem Jahr 2013 vermuten lässt: Damals wurde das offizielle Ergebnis versehentlich schon veröffentlicht, bevor die Wahllokale überhaupt geöffnet hatten.

Journalistin Sevinc Vaqifqizi am Flughafen in Istanbul, wenige Stunden bevor sie in Baku verhaftet wurde.
Abzas Media

Nun wird also schon am 7. Februar gewählt in der ehemaligen Sowjetrepublik, die etwa gleich groß ist wie Österreich. Seit mehr als drei Jahrzehnten ist die Familie Alijew dort an der Macht. Sie gilt als korrupt und autokratisch, politische Opposition und Pressefreiheit werden brutal unterdrückt. Die Menschenrechtslage ist in Aserbaidschan laut Beobachtern so schlecht wie in kaum einem anderen Land.

Hinter den Gittern, über die sie schrieben

Entsprechend fadenscheinig sind Experten zufolge die Gründe für die zahlreichen Verhaftungen: "Abzas", das in der Vergangenheit auch über lukrative Geschäfte und versteckte Vermögenswerte der Präsidentenfamilie berichtet hat, wird der "Verschwörung zur illegalen Einfuhr von Geld" bezichtigt: In der Redaktion seien 40.000 Euro in bar gefunden worden. Der Gründer von "Abzas", Ulvi Haslani, beteuerte kurz vor seiner Verhaftung vor Reportern, das Geld sei zuvor von der Polizei absichtlich im Eingangsbereich der Redaktion platziert worden.

Die "Abzas"-Redaktion hatte im August 2023 für ihre investigative Arbeit ein Stipendium der Europäischen Union in der Höhe von 98.600 Euro erhalten. Der Vertrag liegt der Polizei vor und wurde auch von regierungsnahen Medien in Aserbaidschan veröffentlicht. Damit sollte offenbar demonstriert werden, dass "Abzas" mit ausländischen Kräften kooperiert.

Aus der Bewerbung für das Stipendium, die auch dem STANDARD vorliegt, lassen sich die wichtigsten Recherchestränge herauslesen: Vaqifqizi und ihre Redaktion hatten demnach Fälle von Folter in den Gefängnissen des Regimes und beim Militär untersucht, bei denen auch mehrere Menschen zu Tode kamen.

Die "Abzas"-Recherchen wurden nach den Verhaftungen von einem internationalen Konsortium unter Leitung der Non-Profit-Redaktion "Forbidden Stories" fortgeführt, dazu gehört auch DER STANDARD. Sie zeigen: Auch europäisches Geld floss in aserbaidschanische Gefängnisse – dorthin, wo kritische Journalistinnen und heute noch rund 200 Oppositionelle eingesperrt sind. Dorthin, wo gefoltert wird.

Millionen für ein kaputtes System

Die Spur des Geldes führt nach Straßburg. Seit 2014 hat der Europarat wohl über 23 Millionen Euro an Baku überwiesen, dieses Geld sollte laut den Verträgen unter anderem die Wiedereingliederung von Häftlingen verbessern sowie Folter und Misshandlungen durch Polizei und Gefängnispersonal vorbeugen.

Gleichzeitig flossen seit 2016 wohl 1,3 Millionen Euro über ein von der EU und dem Europarat co-finanziertes Projekt in die Gefängnisinfrastruktur. Verwendet wurde dieses Geld unter anderem für Onlineworkshops zum Coaching von Gefängnismanagern, Zuschüsse für fragwürdige Nichtregierungsorganisationen, die dem Alijew-Clan nahestehen, und die Besichtigung eines Gefängnisses in Spanien.

Ein Sprecher des Europarats betont auf Anfrage, dass finanzielle Unterstützung nicht an den aserbaidschanischen Staatsapparat floss – die NGOs, die der Europarat unterstütze, würden "auf der Grundlage eines transparenten, öffentlichen Ausschreibungsverfahrens" ausgewählt. Kritiker halten dieses Argument für eine Farce. So etwas wie eine unabhängige NGO gebe es in Aserbaidschan schlicht nicht, sagt etwa der aserbaidschanische Autor und Menschenrechtler Arif Yunus.

Der Historiker Arif Yunus zeigt einen Plan des Gefängnisses, in dem er nach eigenen Angaben gefoltert wurde.
VPRO Tegenlicht / Erik van Empel

Tatsächlich herrscht dort, in den Gefängnissen, immenser Handlungsbedarf, das zeigt auch ein 2018 erstellter Bericht des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT), einem Überwachungsorgan des Europarats. Dieses Papier zeichnet ein verheerendes Bild: Zeugen berichteten von Schlägen, Tritten und schweren Formen der Misshandlung.

Ein Bericht, der nicht erscheinen darf

Vor allem aber dürften die finanziellen Maßnahmen wenig gebracht haben: Das US-Außenministerium kritisierte im Jahr 2022, dass die Kritik des CPT in Aserbaidschan nichts bewirkt habe. CPT-Delegationen haben das Land immer wieder besucht. Der Ausschuss, der vom Europarat abhängig ist, kann seine Berichte nicht ohne Aserbaidschans Zustimmung veröffentlichen. Diverse Mitglieder des CPT standen auf Anfrage für ein Interview nicht zur Verfügung.

Fest steht, dass nun auf einmal etliche Hebel in Bewegung geraten sind. Nachdem Aserbaidschan den Europarat 20 Jahre lang nutzen konnte, um sein Image reinzuwaschen – auch mithilfe geschmierter Abgeordneter, die den autokratischen Staat auf der Straßburger Bühne lobten –, scheint sich die Sache nun zu drehen. Am vergangenen Donnerstag hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats die aserbaidschanischen Abgeordneten aus dem Plenum ausgeschlossen.

In der Resolution wird betont, dass Aserbaidschan seinen wichtigen Verpflichtungen gegenüber der Organisation nicht nachgekommen sei. In der Diskussion wiesen die Abgeordneten auf politisch motivierte Verhaftungen und Folter in Gefängnissen hin.

"Ein historischer Moment", sagt Gerald Knaus. Knaus ist Gründungsdirektor des Thinktanks Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) und beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit Aserbaidschan. 2012 machte er Korruption im Europarat zum Thema.

Gas, Kaviar und viel Geld

"Ich glaube schon, dass es Einfluss auf Aserbaidschan hat, wenn sich die Stimmung im Europarat dreht", sagt Knaus, "wir haben ja gesehen, wie viel Geld sie bereit waren dafür auszugeben." Geld, das wohl auch auf deutschen Konten landete und von deutschen Händen weitergereicht wurde. Geld, das Abgeordnete – auch des Deutschen Bundestags – gefügig machen sollte, im Europarat nach Anweisung Bakus tätig zu werden.

Die Münchner Generalstaatsanwaltschaft hat Anfang dieser Woche Anklage gegen zwei deutsche Ex-Politiker erhoben: gegen den ehemaligen CSU-Abgeordneten Eduard Lintner wegen des Verdachts auf Bestechung von Mandatsträgern und Axel Fischer (ehemals CDU) wegen des Verdachts auf Bestechlichkeit.

Der "verlässliche" Autokrat

Nichtsdestotrotz ist das Land weit davon entfernt, isoliert zu sein in der Staatengemeinschaft. Der Kaukasusstaat inszenierte sich als Bühne für Formel-1-Rennen und den Eurovision Song Contest und ist heuer Austragungsort des Weltklimagipfels COP 29. Und seit Russlands Einmarsch in die Ukraine wird Aserbaidschan regelrecht hofiert: Als der deutsche Kanzler Olaf Scholz im März auf den aserbaidschanischen Präsidenten Ilham Alijew traf, nannte er ihn einen "verlässlichen Partner" – wie zuvor auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, die in Baku einen Gasdeal mit dem autokratischen Herrscher besiegelte. Die aserbaidschanischen Lieferungen in die EU sollen verdoppelt werden.

Während westliche Entscheidungsträger und Führungspersonen lächelnd und händeschüttelnd mit Machthaber Alijew posieren, sitzen Haslani, Vaqifqizi und ihre Kolleginnen und Kollegen hinter den Gittern der Untersuchungshaftanstalt in Baku, dem "Gefängnis Nummer 1" – einem Gefängnis, in dem es, unter anderem durch Human Rights Watch, dokumentierte Fälle von Folter gibt. Auch der Menschenrechtler Arif Yunus berichtet von Folter in jener Einrichtung.

Es droht jahrelange Haft

Den Journalistinnen und Journalisten von "Abzas Media" drohen bis zu acht Jahre Haft – möglicherweise in Gefängnissen, die auch von der EU gefördert wurden. "Wenn kritische Personen in Aserbaidschan verhaftet werden, dann sind sie nicht nur für einige Monate außer Gefecht, sondern Jahre", schätzt Leyla Mustavayeva, eine aserbaidschanische Journalistin, die im Exil in Deutschland lebt.

Sie kam hierher, nachdem ihr Ex-Ehemann, ebenfalls Investigativreporter, in Tibilisi gekidnappt, nach Aserbaidschan gebracht und dort inhaftiert wurde. Mustavayeva spricht leise, wählt ihre Worte mit Bedacht, wenn sie nachdenkt, schaut sie an die Decke, als erhoffe sie sich dort eine Antwort auf die großen Fragen nach ihrer Zukunft.

Ulvi Hasanli bei seiner Verhaftung im November.
Abzas Media

Mustafayeva folgt mit Anfang Februar Vaqifqizi nach, den Posten als Chefredakteurin von "Abzas Media" tritt sie aus dem Exil an. Eine große Verantwortung, wie sie dem STANDARD sagt, schließlich arbeiteten noch viele in der Redaktion vor Ort in Aserbaidschan. "Ulvi Haslani und Sevinc Vaqifqizi waren die treibenden Kräfte der kritischen Presse in Aserbaidschan", sagt Mustafayeva. Auch sie war Teil des internationalen Konsortiums rund um Forbidden Stories, Teil des Projekts "The Baku Connection". Es sei wichtig, dass die Recherchen von "Abzas" nun von internationalen Medien zu Ende gebracht werden und in anderen Sprachen erschienen. "Alijew hat auf den richtigen Moment gewartet, um kritische Stimmen zu ersticken", sagt sie, zögert kurz und fügt mit entschlossener Miene hinzu: "Dass sich nun die Augen der internationalen Gemeinschaft auf ihn richten, damit hat er wohl nicht gerechnet." (Hannes Munzinger, Maria Retter, Sophia Stahl, Bastian Obermayer, Frederik Obermaier, 1.2.2024)