Nachdem das albanische Verfassungsgericht am 29. Jänner das im vergangenen November zwischen der albanischen und der italienischen Regierung unterzeichnete Abkommen über die Unterbringung von Migranten in einem Lager im Ort Lezhë als verfassungskonform gewertet hat, gibt es juristische Kritik an der Einschätzung der Verfassungsrichter in Albanien.

Edi Rama und Giorgia Meloni
Das gemeinsame Vorhaben von Edi Rama und Giorgia Meloni, Asylzentren in Albanien zu errichten, stößt auf Kritik von Fachleuten.
EPA/RICCARDO ANTIMIANI

Der immer autokratischer regierende albanische Premier Edi Rama hatte das Abkommen auf Wunsch der italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni unterzeichnet, die wiederum auch deshalb gewählt worden war, weil sie eine drastische Reduktion von Migranten und Migrantinnen in Italien versprochen hatte. Juristen hatten bereits im Vorfeld der Entscheidung darauf hingewiesen, dass ein Staat einem anderen Staat kein Territorium zur Verfügung stellen und auch nicht Exekutivvollmachten auf Beamte eines anderen Staates übertragen dürfe.

Genau dies soll jedoch in dem Migrationslager geschehen. Italienische Beamte sollen unter Anwendung von italienischem Recht darüber urteilen, ob Migranten und Migrantinnen, die in italienischen Gewässern aufgegriffen wurden, Asyl bekommen sollen oder nicht. Das Verfassungsgericht suchte nun offensichtlich nach einem Schlupfloch, um das Protokoll genehmigen zu können, und argumentierte, dass neben italienischem Recht auch albanisches Recht Anwendung finden könnte. Allerdings ist das höchst fraglich.

Der Dekan der Albanischen Universität in Tirana, Jordan Daci, meint im Gespräch mit dem STANDARD, dass es "offensichtlich ist, dass das Migrationsprotokoll ein Bruch mit der albanischen Verfassung ist". Bereits durch die Rechtsordnung im Westfälischen Frieden im Jahr 1648 sei in Europa nämlich klargestellt worden, dass Staaten klare territoriale Grenzen haben, innerhalb derer nur ihnen das Gewaltmonopol obliegt, so Daci.

"Unlogisch, unsinnig"

"Die Argumentation des Verfassungsgerichts ist demnach nicht nur unlogisch, sondern auch unsinnig. Kein anderer Staat kann auf dem Territorium eines anderen Staates exekutiv tätig werden", so Daci. "Auch die anderen Argumente des Verfassungsgerichts sind ein Unsinn, sie widersprechen der UN-Charta für Menschenrechte und dem Internationalen Recht." Die Ausführungen des albanischen Verfassungsgerichts seien politischer Natur und hätten nichts mit Verfassungsrecht zu tun. "Man kann einfach nicht argumentieren, dass albanisches Recht zur Anwendung kommen soll, wenn gleichzeitig das Migrationsprotokoll dies explizit ausschließt", so Daci.

Er verweist zudem darauf, dass in dem Abkommen vereinbart wurde, dass die italienischen Beamten die über das Schicksal der Migranten entscheiden sollen, nicht unter das albanische Recht fallen sollen. "Diese Konstruktion ist schlimmer als eine Chimäre", meint Daci mit Verweis auf das Mischwesen aus der griechischen Mythologie.

Der Verfassungsexperte ist auch darüber enttäuscht, dass es kaum Stimmen aus "den führenden demokratischen Staaten" in der EU gibt, die das Abkommen und seine möglichen Folgen kritisieren. "Ein Staat, der in die EU möchte, wirft gerade seine eigene Verfassung in der Müll", kommentiert er die Entscheidung.

"Wie Gefangene"

Daci meint, dass man mit dem Zulassen eines solchen Migrationszentrums in Albanien "Ghettos" errichtet würde, und erinnert daran, dass in Europa die ersten Ghettos in Italien, genauer in Venedig, entstanden. "Alle Menschen, die in das Migrationszentrum gebracht werden, haben keinerlei Zugang zu einem Gericht in Albanien, sie werden auch keinen Zugang zu anderen Behörden und Dienstleistungen haben, auf die sie jedoch ein Anrecht haben", kritisiert er. "Diese Leute werden wie Gefangene gehalten werden, sie dürfen nicht aus dem umzäunten Gelände, das von der albanischen Polizei bewacht werden wird."

Möglicherweise sollen die italienischen Beamten, die über den Schutzstatus der Migranten entscheiden sollen, per Video zugeschaltet und gar nicht nach Albanien kommen. Mit den Migranten wird demnach möglicherweise gar kein Interview ad personam geführt werden. "Niemand wird nachforschen können, was mit diesen armen Leuten geschehen wird", so Daci zum STANDARD. "Italien ist unser Freund und unser strategischer Partner, aber es sieht so aus, als würde die Regierung wegen ihrer internen Krise komplett den Kompass verloren haben, obwohl Italien einer der sechs Gründungsstaaten der EU ist."

Daci erklärt auch, dass es in der Praxis gar nicht möglich sein wird, dass die Verfahren nur drei Wochen dauern sollen, wie dies offenbar angedacht ist. "Meloni geht es darum, sich selbst zu retten, aber dieser Migrationsdeal hat enorme Konsequenzen. Tausende Menschen werden leiden, abgesehen davon ist es ein schlechter Präzedenzfall für Europa. Es sieht so aus, dass manche in Europa, wie etwa die britische Regierung, diese Ideen mögen. Mit dem Migrationsdeal wird eine Tür geöffnet, und jetzt könnten andere Staaten etwas Ähnliches planen."

"Unkonventionelles Denken"

Tatsächlich ist die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ganz begeistert von der Unterbringung von Migranten und Migrantinnen in Nicht-EU-Staaten. "Dies ist ein Beispiel für unkonventionelles Denken, das auf einer gerechten Aufteilung der Verantwortung mit Drittländern im Einklang mit den Verpflichtungen aus EU- und internationalem Recht basiert", schrieb sie. Ganz offensichtlich geht es dabei um Abschreckung und nicht um die Entlastung des italienischen Asylsystems. Der Leitgedanke ist nämlich, dass Migranten davon abgeschreckt werden sollen, etwa aus Afrika aufzubrechen, wenn ihr Asylstatus nicht in Italien, sondern in Albanien überprüft wird.

Neben dem prominenten Verfassungsrechtler Daci haben auch einige Vertreter der albanischen Zivilgesellschaft, darunter der frühere Justizminister Ylli Manjani, das Helsinki-Komitee für Menschenrechte oder die NGO Res Publica das umstrittene Migrationsprotokoll kritisiert. (Adelheid Wölfl, 2.2.2024)