Dass es nach zwei Jahren Krieg in der ukrainischen Führung rumort, ist weder neu noch überraschend. Die enttäuschend verlaufene Gegenoffensive im vergangenen Sommer, bei der die vom Westen unzureichend ausgerüstete ukrainische Armee kaum Gelände von den russischen Invasoren zurückerobern konnte, gilt als Hauptgrund für die aktuell zugespitzte Lage im offiziellen Kiew. In deren Fokus: Armeechef Walerij Saluschnyj. Spätestens seit einem freiherzigen Interview im britischen Economist im Herbst gilt der bei seiner Truppe und in der Bevölkerung populäre 50-Jährige als angezählt.

Armeechef Saluschnyj in Uniform
Armeechef Walerij Saluschnyj gilt als beliebt in der Truppe und wird von vielen Ukrainerinnen und Ukrainern als Held verehrt.
REUTERS/VIACHESLAV RATYNSKYI

So offen wie selten hatte dieser dort den Zwist zwischen der politischen Führung und den Militäroberen beschrieben, etwa wenn es um den von ihm vorgeschlagenen, von Präsident Wolodymyr Selenskyj aber strikt abgelehnten Rückzug aus dem Donbass-Ort Awdijiwka geht, um den sich russische und ukrainische Truppen seit Monaten erbitterte Kämpfe liefern. Und von einem "Patt" an der Front, wie es der Armeechef beschrieb, wollte Selenskyj ebenfalls nichts wissen und rüffelte Saluschnyj öffentlich. Einen Rücktritt lehnte dieser bisher aber stets ab. Nun hat ihm Selenskyj einmal mehr die Rute ins Fenster gestellt.

"Neustart"

Am Sonntagabend kündigte Selenskyj einen "Neustart" an – ebenfalls in einem Interview, anders als Saluschnyj aber nicht im Economist, sondern im italienischen TV-Sender Rai. Dass der Armeechef dabei keine Rolle mehr spielen dürfte, wurde jedenfalls zwischen den Zeilen deutlich.

Doch nicht nur Saluschnyj muss um seinen Job fürchten, sondern eine ganze Reihe anderer Führungspersönlichkeiten: "Es geht um die gesamte Führung des Landes", so Selenskyj. Wer genau, ließ der Präsident freilich offen. Worum es nun gehe, sei "Einigkeit und Zuversicht" im Kampf gegen den russischen Feind: "Wenn wir gewinnen wollen, müssen wir alle am selben Strang ziehen. Wir dürfen nicht entmutigt sein, wir müssen die richtige und positive Energie haben. Negativität muss zu Hause bleiben. Wir können es uns nicht leisten aufzugeben."

Der Streit zwischen Saluschnyj, dem Ambitionen als Herausforderer Selenskyjs bei einer zukünftigen Wahl für das Präsidentenamt nachgesagt werden, und seinem obersten Chef wird aber seit längerem auch abseits von Interviews geführt. Dass er selbst in die Politik strebt, hat Armeechef Saluschnyj immer wieder dementiert. Ende vergangenen Jahres kritisierte er öffentlich die Entscheidung Selenskyjs, alle ukrainischen Militärkommissare auszutauschen, um korrupte Geschäfte rund um die Mobilmachung weiterer Soldaten für den Kampf gegen die russischen Invasoren hintanzuhalten. Dem 50-Jährigen, der als erster ukrainischer Armeechef nicht in sowjetischen, sondern in ukrainischen Militärschulen ausgebildet wurde, wurde Ende November wiederum im Parlament vorgeworfen, keinen Kriegsplan für 2024 ausgearbeitet zu haben.

Sollte Saluschnyj tatsächlich seines Amtes enthoben werden, werden zwei Männer als potenzielle Nachfolger gehandelt, die beide ihrerseits populär in der Truppe sind, bisher aber noch weniger politische Ambitionen geäußert haben als er: Heeres-Chef Olexander Syrskyj und Militärgeheimdienst-Chef Kyrylo Budanow.

Tote durch Artilleriefeuer

Der Krieg geht derweil in unverminderter Härte weiter. In der Ende 2022 befreiten Stadt Cherson im Süden der Ukraine wurden am Montag laut lokalen Berichten vier Menschen durch russisches Artilleriefeuer getötet. Beim Beschuss einer Bäckerei in der von russischen Truppen besetzten Stadt Lyssytschansk ist Medienberichten zufolge ein Zivilschutzminister der Besatzungsbehörden ums Leben gekommen. Die Leiche Alexej Poteleschtschenkos sei unter Trümmern gefunden worden, hieß es. Die ukrainische Armee kommentierte die Berichte bisher nicht. (Florian Niederndorfer, 5.2.2024)