Für den amtierenden Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu, den gleichzeitig wichtigsten und bekanntesten Politiker der größten Oppositionspartei CHP, wird es immer schwieriger, seine Wiederwahl bei den Kommunalwahlen Ende März zu schaffen. Nachdem bereits vor Wochen die rechtsnationale IYI-Partei angekündigt hatte, in Istanbul einen eigenen Kandidaten aufzustellen, hat jetzt auch die kurdische DEM, die Nachfolgepartei der HDP, den gleichen Schritt verkündet. Nach langen intensiven Debatten und Gesprächen mit der Istanbuler Stadtregierung habe man sich entschlossen, den Wählerinnen und Wählern einen eigenen Kandidaten zu präsentieren, sagte Parteisprecherin Ayşegül Doğan am Sonntagabend. "Wir als DEM haben entschieden, in Istanbul mit einem eigenen Kandidaten anzutreten, um die Wahlen zu gewinnen – und nicht, um andere Kandidaten gewinnen oder verlieren zu lassen", sagte sie zu der Kritik, dass durch die Entscheidung İmamoğlus Wiederwahlchancen drastisch sinken würden.

Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğluam 5. Jänner 2024.
REUTERS/DILARA SENKAYA

Dabei wird genau das der Fall sein. Die Grundlage für den Sieg İmamoğlus in Istanbul vor fünf Jahren war zunächst einmal die Wahlallianz mit der IYI-Partei – und dann vor allem die damalige Entscheidung der HDP, eigene Kandidaten nur auf Bezirksebene aufzustellen und ihre Anhängerinnen und Anhänger dazu aufzurufen, bei der Oberbürgermeisterwahl gegen den Kandidaten von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zu stimmen.

Der Sieg İmamoğlus 2019 in Istanbul war der größte Erfolg gegen den früheren Ministerpräsidenten und heutigen Präsidenten Erdoğan seit dessen Amtsantritt 2003. Für Erdoğan, dessen politische Karriere als Oberbürgermeister in Istanbul in den 1990er-Jahren begonnen hatte, war der Verlust Istanbuls, das seit Mitte der 1990er-Jahre von islamisch-konservativen Parteien regiert worden war, auch deshalb so schmerzlich, weil mit Istanbul die wichtigsten Pfründe für die Versorgung eigener Anhänger verlorengingen.

Lektion aus dem Jahr 2023?

Die Rückgewinnung Istanbuls ist deshalb nach seiner Wiederwahl als Präsident im Mai vergangenen Jahres eines seiner wichtigsten politischen Ziele. Für die Opposition dagegen war der Gewinn Istanbuls Grundlage eines politischen Aufbruchs, der letztlich in der Sechs-Parteien-Koalition mündete, die bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 gegen Erdoğan antrat. Die verlorengegangene Wahl ist aber auch der Hauptgrund dafür, warum in Istanbul die Erfolgskoalition von vor fünf Jahren jetzt nicht mehr zustande kommt. Der Frust ist groß und das Vertrauen in die früheren Partner erodiert.

Die frühere kurdisch-linke HDP, gegen die immer noch ein Verbotsverfahren läuft, hat mittlerweile nicht nur ihren Namen in DEM (Demokratie- und Gleichberechtigungspartei der Völker) geändert, sondern auch ihre politischen Positionen revidiert. Wollte die HDP früher eine enge Zusammenarbeit mit der türkischen Linken, hat sie sich jetzt wieder ganz auf ihre kurdische Basis zurückgezogen. Aus dieser Position heraus gab es offensichtlich für viele Parteimitglieder keinen Grund mehr, mit der CHP von İmamoğlu zu kooperieren.

Die Präsentation des eigenen Kandidaten soll nach noch inoffiziellen Informationen ein besonderer Clou werden. Der Kandidat soll eine Kandidatin werden, und zwar die Frau des inhaftierten prominenten früheren Parteichefs Selahattin Demirtaş, Başak Demirtaş. Sie könnte sicher etliche Wählerinnen mobilisieren. "Sie gehört zu den Namen in der engeren Auswahl", bestätigte Parteisprecherin Ayşegül Doğan Dağlı am Sonntag. Weil bei den Kommunalwahlen immer der Kandidat mit den meisten Stimmen gewinnt, wird eine zersplitterte Opposition vor allem dem Kandidaten der AKP Erdoğans nutzen, dem blassen Technokraten Murat Kurum. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 5.2.2024)