Für die Hochenergiephysik braucht es einen langen Atem: Der aktuell laufende große Beschleunigerring LHC am Kernforschungszentrum Cern wurde vor Jahrzehnten geplant und über Jahre hinweg gebaut. Mit kurzen Unterbrechungen ist er seit 2008 in Betrieb und soll bis 2041 im Einsatz bleiben. Am Cern wird aber längst schon über die Nachfolge für den großen Beschleuniger nachgedacht, am Montag wurden dazu in Genf die neuesten Ergebnisse präsentiert.

Physikerin Fabiola Gianotti
Die italienische experimentelle Teilchenphysikerin Fabiola Gianotti leitet seit 2016 als Cern-Generaldirektorin die Geschicke des größten Teilchenbeschleunigers der Welt.
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Als Favorit für die Nachfolge des LHC hat sich in den vergangenen Jahren der Future Circular Collider (FCC) durchgesetzt. Noch ist nicht fix, dass dieser noch größere Beschleunigerring mit einem Umfang von rund 100 Kilometern (zum Vergleich: der Umfang des LHC misst 27 Kilometer) tatsächlich kommen wird. Doch aktuell wird eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, die technische, ökologische, aber auch finanzielle Fragen in den Blick nimmt. Die Cern-Generaldirektorin Fabiola Gianotti legte am Montag gemeinsam mit dem Leiter der Machbarkeitsstudie für den FCC Michael Benedikt und dem Präsidenten des Cern-Rats Eliezer Rabinovici eine Zwischenbilanz zum FCC vor. Wenn alles nach Plan läuft, könnte der nächste Riesenbeschleuniger ab den 2040er-Jahren in Betrieb sein und damit recht unmittelbar den LHC ablösen.

Keine fundamentalen Hindernisse

Das wichtigste bisherige Ergebnis ist, dass bislang keine fundamentalen Hindernisse identifiziert worden sind, die die Umsetzung des Future Circular Collider infrage stellen würden. Eines der wichtigsten wissenschaftlichen Ziele des FCC ist für Fabiola Gianotti, die Erforschung des Higgs-Bosons mit noch größerer Präzision zu ermöglichen. "Das Higgs-Boson ist ein sehr spezielles Teilchen, das mit einigen der großen offenen Fragen in Zusammenhang steht", sagte Gianotti. Weiters gelte es, mit dem FCC in neue Energieskalen vorzustoßen und damit hoffentlich auch neue Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu entdecken.

Dabei geht es insbesondere auch um Hinweise für Dunkle Materie, die rund ein Viertel des Gesamtenergiegehalts im Universum ausmacht. Weiters gilt es, das nach wie vor ungelöste Rätsel zu lösen, warum es im Universum mehr Materie als Antimaterie gibt. Insgesamt sieht Gianotti den FCC als "Innovationstreiber", da seine Realisierung nur durch die Entwicklung neuer Technologien möglich wäre, von denen nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Wirtschaft und die Gesellschaft profitieren würden.

Der österreichische Physiker Michael Benedikt leitet die Machbarkeitsstudie für den Future Circular Collider, die bis Mitte nächsten Jahres abgeschlossen sein soll. Eine Prüfung des bestmöglichen Standorts im Genfer Becken sei nun erfolgt. Neben geologischen Aspekten seien laut Benedikt auch ökologische Fragen stark in die Analyse eingeflossen. Konkret wird in der Machbarkeitsstudie nun mit einem Beschleunigerring mit einer Länge von 91 Kilometern geplant (also etwas kleiner als die ursprünglich angedachten 100 Kilometer). Bessere Magnete, die die Teilchenstrahlen auf Bahn halten, würden ein kleineres Design erlauben. Die Kollisionsenergien von 100 Tera-Elektronenvolt sind aber nach wie vor Zielmarke für den FCC (zum Vergleich: beim LHC werden Kollisionsenergien von bis zu 14 TeV erreicht). Der Plan sieht eine Inbetriebnahme in zwei Phasen vor: Ab Mitte der 2040er-Jahren könnten im FCC Kollisionen von Elektronen und Positronen durchgeführt werden. Etwa ab den 2070er-Jahren sollen dann Kollisionsexperimente mit schwereren Ionen folgen.

Physiker Michael Benedikt
Der österreichische Physiker Michael Benedikt hat einst in seiner Dissertation das Design für das Zentrum für Ionentherapie Med-Austron in Wiener Neustadt entwickelt. Nun leitet er die Machbarkeitsstudie für den Future Circular Collider am Cern.
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Die nächsten Schritte

Eliezer Rabinovici ist seit 2022 Präsident des Cern-Rats und leitet damit das höchste Entscheidungsgremium des Cern, das sich aus Vertretern der Mitgliedsstaaten zusammensetzt. "Alle Mitgliedsstaaten haben sich zur Vision verpflichtet, dass das Cern auch weiterhin die bestmögliche Physik und die bestmöglichen Technologien für die Hochenergiephysik bereitstellt", sagte Rabinovici. Der Rat sei laut Rabinovici vom aktuellen Stand der Machbarkeitsstudie durchaus beeindruckt gewesen, insbesondere hob er positiv hervor, dass in der Planung vom FCC ökologischen Überlegungen ein hoher Stellenwert eingeräumt wird. Sobald im kommenden Jahr der finale Machbarkeitsbericht für den Future Circular Collider vorliegt, könnten im Rat Entscheidungen bezüglich der konkreten Umsetzung des Projekts getroffen werden.

Knackpunkt dabei ist freilich auch die Finanzierung. Gianotti betonte, dass es aktuell noch kein finales Budget für den FCC gebe, sie geht aber von Kosten in der Höhe von 15 Milliarden Schweizer Franken (rund 16 Milliarden Euro) für den Tunnelbau, die technische Infrastruktur und vier Experimente entlang des FCCs aus. Der Hauptanteil der Kosten könnte laut Gianotti durch das Cern-Budget abgedeckt werden, sofern die Mitgliedsstaaten dem Plan zustimmen. Die Kosten für die Errichtung des FCC würden über mindestens zehn Jahre verteilt anfallen, da der Bau mindestens eine Dekade dauern würde. Weiters strebt Gianotti für den FCC eine noch stärkere Zusammenarbeit mit außereuropäischen Partnern wie den USA an, die sich auch schon am LHC maßgeblich finanziell beteiligt haben.

Tunnel des Teilchenbeschleunigers LHC
Der große Beschleunigerring LHC in Genf ist der weltgrößte Teilchenbeschleuniger und mit einer Länge von 27 Kilometern das größte wissenschaftliche Labor der Welt.
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Ökologische Überlegungen

Zu den ökologischen Überlegungen, mit denen man sich im Rahmen der Machbarkeitsstudie für den FCC beschäftigt hat, zählt für Benedikt etwa wie Frage, wie beispielsweise die Abwärme der Kühlsysteme für den FCC für Fernwärme für die regionale Bevölkerung eingesetzt werden kann. Auch möglichst energiesparende Methoden, um die Teilchen auf Kollisionskurs zu bringen, werden analysiert. Nach aktuellen Energieabschätzungen würde das Kernforschungszentrum Cern inklusive des Future Circular Collider jährlich rund zwei Terawattstunden verbrauchen. "Und wir arbeiten daran, diesen Energiebedarf noch zu senken", sagte Benedikt. Der wesentlich kleinere LHC verbraucht aktuell pro Jahr etwa 1,3 Terawattstunden – was ungefähr dem Energieverbrauch von 300.000 Haushalten entspricht.

Auch Generaldirektorin Gianotti betonte, dass ökologische Fragen in den vergangenen Jahren stärker in den Fokus am Cern gerückt seien. Sie hob etwa die Energiestrategie hervor sowie die Auszeichnung mit dem ISO-50001-Energiezertifikat, die für eine wissenschaftliche Einrichtung außergewöhnlich sei. "Auch dieses Zertifikat zeigt, dass sich Cern zur Umwelt verpflichtet", sagte Gianotti.

Neben ökologischen Bedenken, ob des enormen Energieverbrauchs für den FCC, die etwa von lokalen Umweltschutzgruppen ins Treffen geführt wird, gibt es teilweise auch Kritik aus der Wissenschaft: Manche Physikerinnen und Physiker hätten statt des nächsten Riesenbeschleunigers einen bescheideneren Linearbeschleuniger bevorzugt. Auch die Errichtungskosten in Milliardenhöhe veranlassen manche zur Überlegung, ob bei mehreren kleineren Experimenten wissenschaftlich nicht mehr zu holen sei, wie etwa die exponierte Cern-Kritikerin Sabine Hossenfelder argumentiert, die neue Entdeckungen zu Dunkler Materie durch den FCC für "unwahrscheinlich" hält. Gegenüber der "BBC" äußerte sich etwa auch der ehemalige Chief Scientific Adviser der britischen Regierung Sir David King sehr ablehnend zu den Milliardenplänen am Cern: Angesichts der enormen Bedrohungen durch den Klimawandel sprach er von einer "rücksichtslosen" Investition. Gemäß der Europäischen Strategie für Teilchenphysik, dem das Cern verpflichtet ist, will Europa aber seine Führungsrolle in der Teilchenphysik verteidigen – und dieses Vorhaben scheint mit FCC viel eher machbar als ohne.

Plan für den Future Circular Collider
Im Vorjahr wurde eine Skizze mit einem Größenvergleich vom LHC mit dem FCC vom Cern veröffentlicht. In der Planung ist der FCC inzwischen ein wenig geschrumpft: Statt der ursprünglich vorgesehenen 100 Kilometer an Umfang geht man nun von 91 Kilometern für den FCC aus. Zum Vergleich: Der Umfang des aktuell in Betrieb befindlichen LHC beträgt 27 Kilometer.
APA/AFP/European Organization for Nuclear Research (CERN)

Eine "Entdeckungsmaschine"

Im Gegensatz zur Planungsphase vom LHC ist die Teilchenphysik nun in einer Situation, wo es keine konkreten Vorhersagen aus der Theorie gibt, wonach genau künftige Experimente fahnden sollten. "Unser Ziel ist, die großen offenen Fragen zu adressieren und zu sehen, welche Antworten die Natur für uns bereithält", sagt Gianotti. Da die theoretische Physik keine Richtung vorgibt, sieht sie das große Ziel darin, "einen großen Schritt mit den Technologien vorwärts zu machen".

Auch Ratspräsident Rabinovici pflichtete ihr bei, dass die aktuelle Aufgabe für die Teilchenphysik nicht darin bestehe, eine "Bestätigungsmaschine" zu bauen. Als der Beschleunigerring LHC gebaut wurde, war das noch anders: Damals sagte die theoretische Physik die Existenz des Higgs-Bosons voraus, und das erklärte Hauptziel des LHC bestand darin, dieses Higgs-Teilchen nachzuweisen, was 2012 auch gelungen ist. In der aktuellen Situation brauche es laut Rabinovici aber eine "Entdeckungsmaschine", um gänzlich neue Physik, die noch nicht am Radar der theoretischen Physikerinnen und Physiker ist, aufzuspüren. (Tanja Traxler, 6.2.2024)