Bei einer Gedenkfeier am Jahrestag der verheerenden Erdbeben im Südosten der Türkei und im Norden Syriens ist es am Dienstag zu regelrechten Tumulten gekommen. Nach Medienberichten wurde vor allem in Antakya, der Provinzhauptstadt der am härtesten betroffenen Region Hatay, massive Kritik an der Regierung und den Provinzbehörden laut.

Gedenkfeier in Hatay
Gedenkfeier in Hatay, wo es fast die Hälfte der insgesamt 53.300 Toten gab.
EPA/ERDEM SAHIN

Tausende im völlig zerstörten Zentrum von Antakya versammelte Menschen buhten die Regierung aus. Als einige ranghohe Funktionäre vor der Versammlung sprechen wollten, skandierten einige Menschen "Mörder", wütende Kundgebungsteilnehmer lieferten sich Handgemenge mit der Polizei. Aber auch Provinzbürgermeister Lütfü Savas von der oppositionellen CHP wurde in Sprechchören zum Rücktritt aufgefordert.

Insbesondere in der Provinz Hatay, im Südosten entlang der Grenze zu Syrien, wo es fast die Hälfte der insgesamt 53.300 Toten gab, sind die Menschen verzweifelt, weil in dem Jahr, das nun seit dem schrecklichen 6. Februar 2023 vergangen ist, so wenig passiert ist, um ihre Lebenssituation wirklich zu verbessern. Schon bei der Schweigeminute um 4:17 Uhr Ortszeit in der Nacht, zum Zeitpunkt, als der erste schwere Erdstoß Antakya erschütterte, riefen Teilnehmer: "Hört jemand unsere Stimmen?" Dieser Satz ertönte tausendfach nach dem Beben, als Verschüttete auf sich aufmerksam machen wollten – vor allem in Hatay oft vergebens.

Schon in den Tagen nach dem Beben hatte es massive Kritik an der Regierung gegeben, weil vor allem in Hatay tagelang keine staatliche Hilfe angekommen war. Überlebende und einige internationale Helfer, denen schweres Räum- und Bergegerät fehlte, hatten es oft nicht geschafft, rechtzeitig die Verschütteten zu erreichen.

Jetzt gehört Hatay wieder zu den Provinzen, in denen dem Empfinden der Betroffenen nach am wenigsten geschieht. Es gibt wenig neu gebaute Häuser; die Qualität der Containercamps, in denen nun die meisten Betroffenen leben, ist im Vergleich zu anderen Regionen ziemlich schlecht. Es hapert an der Grundversorgung, es gibt kaum Schulunterricht für die Kinder – und einen Job zu finden, durch den Überlebende wenigstens einen Teil ihres Unterhalts wieder selbst bestreiten könnten, ist nahezu unmöglich: Zu großflächig zerstört ist die ganze Region.

Video: Erdbebenopfer fühlen sich im Stich gelassen.
AFP

PR-Tour von Erdoğan

Am vergangenen Samstag besuchte Präsident Recep Tayyip Erdoğan Hatay – allerdings nicht Antakya oder eines der Containerdörfer, sondern ein sorgfältig abgesperrtes Areal mit den ersten wenigen fertiggestellten Neubauten. Angesichts der bevorstehenden Kommunalwahlen im März brachte Erdoğan auch ziemlich unverblümt zum Ausdruck, warum es in Antakya und Hatay im Vergleich zu anderen Erdbebenregionen so schlecht vorangehe: Wer eine andere Kommunalverwaltung wähle als die Partei der Zentralregierung, werde immer Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit haben, sagte er.

Zum Gedenken am Dienstag reiste Erdoğan dann auch nicht nach Antakya, sondern nach Kahramanmaraş, einer ebenfalls stark betroffenen Provinz, wo die Wiederaufbauarbeiten allerdings schon sehr viel weiter gediehen sind als in Hatay. Kahramanmaraş ist eine Hochburg der Regierungspartei AKP, und auch bei den Präsidentenwahlen im Mai 2023 hat Erdoğan hier haushoch gewonnen. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 6.2.2024)