Eine UNRWA-Hilfslieferung an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen.
Eine UNRWA-Hilfslieferung an der Grenze zwischen Ägypten und dem Gazastreifen. Hunderttausende Menschen im Gazastreifen sind auf die Hilfe der Organisation angewiesen.
REUTERS/AMR ABDALLAH DALSH

UN-Generalsekretär António Guterres tritt die Flucht nach vorn an. Guterres will durch eine Expertenkommission das Palästinenserhilfswerk UNRWA untersuchen lassen. Damit reagiert er auf den massiven Druck, dem die Vereinten Nationen und das Hilfswerk seit Tagen ausgesetzt sind: Israel erhebt Terrorismusanschuldigungen gegen ein Dutzend UNRWA-Mitarbeiter, bezichtigt das Hilfswerk der Kumpanei mit den Extremisten der Hamas und fordert die Schließung des größten Anbieters für soziale Leistungen an die Palästinenserinnen und Palästinenser.

Sollten sich insbesondere die Terrorismusvorwürfe bewahrheiten, droht der gesamten Weltorganisation ein massiver Reputationsschaden. Zudem dürfte die UNRWA dann aus Geldmangel gezwungen sein, die humanitäre Arbeit im umkämpften Gazastreifen und in anderen Gebieten des Nahen Ostens teilweise oder ganz einzustellen. International lösten die Vorwürfe der Netanjahu-Regierung Schockwellen aus. UNRWA-Zahler, darunter die USA, Deutschland und Österreich, setzten neue Überweisungen aus. "Ich appelliere an alle Mitgliedsstaaten, die Kontinuität der lebensrettenden Arbeit der UNRWA zu gewährleisten", appellierte der UN-Generalsekretär an die Adresse der Geberstaaten.

Abschlussbericht Ende April

Werden sich die Geber von der anstehenden Untersuchung besänftigen lassen und das Geld für UNRWA wieder freigeben? Guterres und UNRWA-Generalkommissar Philippe Lazzarini hoffen das. Nach "Rücksprache" mit Lazzarini übertrug Guterres der früheren französischen Außenministerin Catherine Colonna die Leitung der Untersuchung. Colonna soll Mitte Februar die Arbeit aufnehmen und Ende April ihren Abschlussbericht vorlegen. Drei skandinavische Menschenrechtsinstitutionen, darunter das schwedische Raoul-Wallenberg-Institut, wirken mit. Die Untersuchung soll unabhängig von den UN agieren, betont Guterres. Die Frage, nach welchen Kriterien die Ex-Ministerin Colonna und die Institute ausgesucht wurden, beantworteten die UN zunächst nicht.

Die Kommission folgt einem eher offen formulierten Auftrag. Sie soll bewerten, ob die UNRWA "alles in ihrer Macht Stehende tut, um die Neutralität zu gewährleisten und auf Behauptungen über schwerwiegende Verstöße zu reagieren, wenn sie erhoben werden". Allerdings ermittelt die Colonna-Kommission nicht in der zentralen Frage, ob UNRWA-Angestellte an den Terrorattacken der Hamas gegen Israel am 7. Oktober beteiligt waren oder nicht. Die Colonna-Überprüfung "wird parallel zu einer derzeit laufenden Untersuchung des UN-Büros für interne Aufsichtsdienste (OIOS) stattfinden, bei der es um die mutmaßliche Beteiligung von zwölf UNRWA-Mitarbeitern an den Anschlägen vom 7. Oktober geht", erläutert der UN-Generalsekretär.

Kein Dossier erhalten

Das ständige Ermittlungsbüro OIOS leitet also die brisanten Terroruntersuchungen gegen das UNRWA-Personal – die Colonna-Kommission konzentriert sich hingegen auf Fragen wie die der Unparteilichkeit der UNRWA. "Es sind zwei unterschiedliche Dinge", erläutert UN-Sprecher Stéphane Dujarric. In jedem Fall stehen beide Untersuchungsteams vor komplexen Herausforderungen, müssen sie doch unter Kriegsbedingungen ermitteln. Erschwert wird die Arbeit durch eine bislang unvollständige Kooperation der Israelis, die ihre Terroranschuldigungen gegen UNRWA-Personal auf Geheimdienstinformationen stützen. "Wir haben noch kein schriftliches Geheimdienstdossier von Israel erhalten", heißt es aus den UN.

Fachleute raten dazu, die Arbeit und die Resultate der Colonna-Gruppe und des OIOS abzuwarten. Es handele sich "um ernsthafte und glaubwürdige Untersuchungen", urteilt Daniel Forti, leitender UN-Analyst der International Crisis Group. Beide Abschlussberichte sollten "den Vereinten Nationen helfen, besser auf die konkreten Vorwürfe Israels zu reagieren und herauszufinden, ob größere Änderungen an der UNRWA gerechtfertigt sind". Für Forti steht außer Frage, dass die angesehene ehemalige französische Außenministerin Colonna ihrer Aufgabe gewachsen ist. (Jan Dirk Herbermann aus Genf, 8.2.2024)