Was sich in den letzten Tagen vor und nach dem Rücktritt der Staatspräsidentin Katalin Novák und der Fidesz-Spitzenkandidatin für die EU-Wahl, der ehemaligen Justizministerin Judit Varga, in Ungarn abgespielt hat, bestätigt die zeitlose Gültigkeit der Formel, dass in der Politik, selbst innerhalb eines autoritären Systems, Überraschungen immer möglich sind.

Die zwei gebildeten und sprachkundigen Politikerinnen dienten im In- und Ausland als loyale Erfüllungsgehilfinnen des allmächtigen Partei- und Regierungschefs Viktor Orbán und waren Ausnahmepersönlichkeiten in der Regierungspartei. Der Frauenanteil in der Fidesz-Parlamentsfraktion und auch in der Regierung ist nämlich einer der niedrigsten in Europa. Ihr schneller Rücktritt wegen einer verspätet bekanntgewordenen Begnadigung in einem Kindermissbrauchsfall wird mit geheucheltem Verständnis von dem gigantischen Medienapparat des Regimes sogar als Beispiel moralischer Überlegenheit gegenüber dem angeblichen Schweigen linker Missetäter in der Politik hingestellt.

Ungarns Präsidentin Katalin Novák
Trat am Samstagnachmittag zurück: Ungarns Präsidentin Katalin Novák, im Bild aus dem Jahr 2017 mit Premier Viktor Orbán.
AFP/ATTILA KISBENEDEK

Dass der Schein einer gelungenen Schadensbegrenzung trügt, zeigt das große Echo, das die überraschenden, außerordentlich scharfen öffentlichen, regierungsfeindlichen Angriffe Péter Magyars, des Ex-Mannes von Varga, ausgelöst haben. Das Orbán-Regime verstecke sich hinter Frauenröcken und schütze die Drahtzieher der Begnadigung, anstatt sich selbst der Verantwortung zu stellen. Der Zuckerguss dieses politischen Systems diene nur der Verkleidung der nackten Machtausübung und der Tatsache, dass ein paar Familien die Hälfte des Landes besitzen.

Absolute Kontrolle

Péter Magyar, ein Ex-Diplomat und Anwalt, trat aus Protest von allen seinen Funktionen bei staatlichen Unternehmungen zurück. In einem anderthalb Stunden langen Interview am Sonntag mit Partisan, einem unabhängigen Internetportal, entlarvte der Fidesz-Insider durch persönliche Erfahrungen, wie Orbán durch seine rechte Hand, Kanzleramtsminister Antal Rogán, von den Medien bis zum Geheimdienst alles kontrolliert.

Sein mutiger offener Bruch mit dem Orbán-Regime, das der Soziologe Bálint Magyar (kein Verwandter!) bereits vor Jahren als einen "vom Orbán-Clan regierten postkommunistischen Mafia-Staat" bezeichnet hat, ist eine beispiellose und persönlich riskante Handlung.

Die auf Youtube abrufbare Sendung mit den offenherzigen kritischen und selbstkritischen Stellungnahmen des sich wiederholt als rechtskonservativen bekennenden Intellektuellen aus dem Herzen des Fidesz-Lagers erinnerten mich, so absurd es auch klingen mag, an den Anfang der Rebellion vor vielen Jahren von Milovan Djilas gegen die "Neue Klasse" im titoistischen Jugoslawien.

Ministerpräsident Orbán, der die absolute Kontrolle über Schicksale und Vermögen in seiner politischen Familie ausübt, ist mit der schwierigen Suche nach Nachfolgern für die Präsidentin und die EU-Spitzenkandidatin beschäftigt. Die Gärung im Fidesz-Lager wegen des skandalösen Vorgangs ist noch nicht am Ende, und Enthüllungen über das angebliche Netzwerk hinter der Begnadigung des Pädophilenhelfers aus Bicske, in der Nähe von Felcsút, dem Heimatdorf Orbáns, sind auch möglich. (Paul Lendvai, 12.2.2024)