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Mit völlig neuen Schritten, Figuren und Bewegungen durchbrachen Jayne Torvill und Christopher Dean die russische Dominanz.

Vier Minuten lang floss eine Bewegung in die andere, griff eine Hand in die andere; sie umkreiste ihn, er wand sie um seinen Körper, und nach dem mächtigen dissonanten Schlussakkord lagen sie wie leblos auf dem Eis. Es war eine Kür, die sich die Freiheit nahm, unendlich anders zu sein, und die damit Menschen erreichte, die vom Eistanz nicht den Hauch einer Ahnung hatten."

Man kann, was da am 14. Februar 1984 in Sarajevo passierte, kaum besser beschreiben, als die Berliner Zeitung das im Mai 2020 getan hat. Sie brauchte dafür auch keinen Jahrestag, sie half sich schlicht mit einer Serie ("Geschichten, die oft hinter dem Offensichtlichen zurückstehen") über jene Zeit hinweg, in der Corona-bedingt auch die Sportwelt stillstand. Der 35. Teil der Serie drehte sich um die britischen Eistänzer Jayne Torvill und Christopher Dean. Sie waren es, die auf dem Eis lagen, nach dem Schlussakkord des Boléro und einer vierminütigen Kür als Höhepunkt der Olympischen Spiele in Sarajevo.

Jayne Torvills und Christopher Deans legendärer Bolero
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Kurzer Einschub. Den Boléro hatte Maurice Ravel auf Bitten der Tänzerin Ida Rubinstein hin zu Papier gebracht, der Franzose beschrieb ihn wie folgt: "Ein einsätziger Tanz, sehr langsam und ständig gleichbleibend, was die Melodie, die Harmonik und den ununterbrochen von einer Rührtrommel markierten Rhythmus betrifft. Das einzige Element der Abwechslung ist das Crescendo des Orchesters." Die Ballett-Uraufführung fand am 22. November 1928 in der Pariser Oper statt, die 43-jährige Rubinstein bewegte sich in einem Kreis von zwanzig jungen Kollegen so erotisch und lasziv, dass das Publikum dem Vernehmen nach gleichermaßen "schockiert und fasziniert" gewesen ist.

Traumfrau, Traumpaar

Noch ein kurzer Einschub. Gut fünfzig Jahre später erlebte der Boléro 1979 eine Renaissance. Die hatte er dem Kinofilm Die Traumfrau zu verdanken, dem wiederum Bo Derek zu verdanken hatte, dass sie in den frühen 1980er-Jahren als, nun ja, Sexsymbol galt.

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Zur Belohnung gab es olympisches Gold.
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Fünf Jahre nach der Traumfrau, die sich am Strand räkelte, glitt das Traumpaar des Kunstlaufs zum Boléro über das Eis. Torvill und Dean, deren Partnerschaft nur anfänglich über rein Sportliches hinausgegangen war, trieben den Eistanz zu einer neuen, nie dagewesenen Blüte. Jahrelang hatte Russland diese freilich junge, erst ab 1976 olympische Disziplin beherrscht – mit präziser Technik als Resultat jahrelangen beinharten Balletttrainings. Torvill/Dean setzten andere Schwerpunkte. Mit Ausdruck und Stil zielten sie eher auf die dies würdigende B-Note ab. In Sarajevo gab es im B-Wert denn auch ausschließlich die Höchstnote, damals 6,0.

Für Sarajevo 1984 waren die Wiener Geschwister Christoff und Kathrin Beck, die vier Jahre später in Calgary auf den fünften Olympiarang tanzen sollten, noch etwas zu jung. Gleichwohl waren Beck/Beck mit Torvill/Dean schon ab 1980 gut bekannt. Da hatte man sich beim Sommertrainingslager im westfranzösischen Arcachon kennengelernt. "Wirklich sehr sympathische Menschen", erinnert sich Christoff Beck. "Wir waren alle im Atlantik schwimmen, hatten viel Spaß."

"Ein echtes Wagnis"

Dass sie jemals "gegen" Torvill/ Dean gelaufen wären, würde Beck so nicht sagen, doch zweimal habe man sich immerhin "im selben Bewerb" befunden. Das war bei der WM 1983 in Helsinki sowie bei der EM im Jänner 1984 in Budapest. Torvill/Dean trugen da wie dort die Goldmedaille davon, Beck/Beck landeten jeweils auf Rang 16. In Budapest gaben die Briten bereits den Boléro zum Besten, der ihnen wenige Wochen später auch olympisches Gold bescheren sollte. Die Wahl dieses Musikstücks ist laut Beck "ein echtes Wagnis" gewesen. "Mit dem Boléro, der ja ein Gassenhauer ist, wurden die Regeln über den Haufen geworfen. Er hat keine rhythmischen Unterschiede, die eigentlich vorgeschrieben waren."

Torvill/Dean, Freunde fürs Leben, kürzlich bei einem PR-Auftritt.
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Torvill und Dean stammen aus Nottingham, sie war zunächst Paarläuferin, er tanzte da noch mit einer anderen. Er ging auch schon als Polizist auf Streife, sie war bei einer Versicherung angestellt. Es dauerte, bis sie zusammenfanden und sich auf den Sport konzentrierten. Aber dann, aber dann! "Was mich an ihnen so fasziniert hat", sagt Christoff Beck, "war ihre ganz besondere Eislauftechnik. In welchem Rhythmus sie die Schritte gesetzt, dieses weiche und doch so schwungvolle Laufen perfektioniert haben. Da gab es Schritte, Figuren, Bewegungen, die bis dahin völlig unbekannt waren. Das war so viel mehr als die knappen russischen Ballettbewegungen. Und vor allem sind sie als gleichberechtigte Partner gelaufen, als Mann und Frau auf Augenhöhe."

Torvill ist verheiratet und zweifache Mutter, Dean zweimal geschieden und zweifacher Vater. Nach der WM 1984, bei der sie das Gold-Triple in diesem Jahr komplettierten, waren sie ins Profilager gewechselt, 1994 kehrten sie noch einmal zurück, um sich mit EM-Gold und Olympia-Bronze zu schmücken. Doch dieses Comeback geriet in Vergessenheit – im Gegensatz zum legendären Boléro von Sarajevo. (Fritz Neumann, 14.2.2024)