Rebecca Adler ist spät dran. Sie rennt. Rennt schnell, um noch rechtzeitig zum Unterrichtsbeginn in ihrer Vorschulklasse zu sein. Denn immerhin ist sie die Lehrerin. Sie schafft es. Während sie und die Kids sich darüber unterhalten, was sie denn so am Wochenende alles erlebt haben, beginnt Rebecca plötzlich zu brabbeln und zu stammeln, alles dreht sich. Sie kollabiert.

Doch schon beim ersten Dialog zwischen dem hinkenden, sich an einem Stock abstützenden Dr. Gregory House (Hugh Laurie) und seinem Kollegen Dr. James Wilson (Robert Sean Leonard ... jawoll, das ist der vormalige Schüler aus "Der Club der toten Dichter") wird uns klar: Uuuuups, das ist doch keine normale Ärzteserie wie andere auch.

Schnitt

Wir befinden uns im Jahr 2004 – und daher denken wir uns: "Alles klar, schon wieder eine Krankenhausserie." Wir fühlen uns abgebrüht und gestählt von gefühlt 36 Staffeln "Emergency Room", tatsächlich sind es zu diesem Zeitpunkt derer aber erst zehn.

House Season 1 | Trailer | iflix
House (in der deutschen Version Dr. House) schrieb vor 20 Jahren die Regeln für Krankenhausserien neu.
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Und warum? Weil uns bei "House" (in der deutschen Version "Dr. House") erst einmal die Luft wegbleibt: Wilson schildert seinem Kollegen den Fall der jungen, urplötzlich kollabierten Pädagogin und bittet ihn, sich gut um Rebecca zu kümmern – denn sie sei schließlich seine Cousine. Doch Diagnostikgenie House entgegnet ganz locker und beiläufig: "Na, das, was sie zu hören kriegen wird, würde auch ich nicht gerade gern hören wollen: Hirntumor. Sie wird sterben. Wie langweilig." Dreht sich um und lässt gleichermaßen Dr. Wilson wie auch uns, das TV-Publikum anno 2004, sprachlos stehen. Schnappatmung.

Zeitsprung

Mittlerweile sind 20 Jahre vergangen – eine Zeitspanne, in der man so manche TV-Serie schon längst und zu Recht vergessen hätte. Nicht aber "House": einerseits deswegen, weil sie immer noch allnachmittäglich auf irgendeinem Kabel- oder Satellitensender läuft und läuft und läuft; andererseits, weil sie sich vor gut zwei Jahrzehnten irgendwie in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt hat, eben weil sie "damals" nicht wenige im Publikum ob des demonstrativ empathielosen Getues des Protagonisten so empörte.

Das war natürlich so gewollt, denn die von David Shore ("Law & Order", "Ein Mountie in Chicago", "The Good Doctor") entwickelte Serie sollte eben nicht der x-te Aufguss einer Krankenhaussaga sein. So wie heutzutage keine Krimiserie ohne desillusionierte, dysfunktionale, oft auch alkohol- oder drogenabhängige Kommissarinnen und Kommissare auskommt, so sollte auch hier mit dem geradezu allmächtigen Halbgott in Weiß gebrochen werden.

Und zwar endgültig: Gregory House verweigert nicht nur den obligaten Ärztekittel – nein, er ist selbst Patient. Denn er ist medikamentenabhängig. Und wie! House hatte – wie wir peu à peu erfahren – einen Herzinfarkt. Dabei kam es zu Durchblutungsstörungen, Teile der Oberschenkelmuskulatur mussten entfernt werden. Das tut erstens permanent und zweitens höllisch weh. Und drittens ist es recht unpraktisch, wenn man Motorrad fahren will. Wohin mit dem Gehstock, verdammt noch mal?

"Ich bin zu stoned ..."

Es zuzugeben, dass er an diesem Umstand und an diesen Schmerzen wahnsinnig zu werden droht, würde House nie einfallen. Lieber feuert einen seiner sarkastischen Blödelsprüche ab: "Ich habe kein Schmerzmanagement-Problem. Ich habe ein Schmerzproblem. Aber vielleicht bin ich auch nur zu stoned, um den Unterschied zu erkennen."

2004 gab es also mehr oder weniger gelinden Schock und Empörung. Und heute? Wir haben uns längst an stärkeren Tobak gewöhnt. Streamingsender haben die TV-Haushalte erobert, jeder muss den anderen mit noch spektakuläreren, noch krasseren, noch düstereren Serien übertrumpfen. Man kann sich dem entziehen – tut es dann aber doch nicht.

Ist "House" also mittlerweile weichgespült und harmlos? Nicht ganz. Das Verhältnis zwischen Arzt und Patientin oder Patient sollte trotz aller genialen bis abstrusen Drehbuchideen doch immer ein vertrauensvolles sein. Doch Gregory House gefällt sich allzu sehr in seiner Rolle als genialer Diagnostiker, der sich nur so lange für seine Fälle interessiert, wie sie nicht gelöst sind. Schnell weg damit, denn das nächste Rätsel wartet schon. Was kümmert es ihn dann, wenn er todkranke Menschen auch noch kränkt und noch tiefer in die Verzweiflung treibt? Das würde nur seinen eigenen Schmerz und die eigene Verzweiflung befeuern.

Hugh Laurie in
Hugh Laurie in "House", der Serie, die vor 20 Jahren die Regeln für Krankenhausserien neu schrieb.
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Schutzpanzer

Ja, das war damals wie heute kritikwürdig. Doch natürlich sollen wir auch hinter die Fassade dieses Mannes blicken. Eines Mannes, der selbst verletzlich ist und sich mit seinem brachialen Verhalten bloß einen Panzer angelegt hat. Andere Ärzte stellen Distanz – sprich: Unverwundbarkeit – durch besagten Kittel oder durch permanent zur Schau gestellte Zeitnot her. Hauptsache, bloß nicht zu nah am Menschen sein. Denn wie sonst soll ich ihm oder ihr helfen können? Eben.

Würde "House" heute produziert, was wäre anders? Wohl kaum der sarkastische, oft zynische Zugang des Herrn Doktor zu seinem Beruf. Vielleicht hätte er aber wenigstens die eine oder andere sehr unangenehme Beschwerde – oder gar ein Verfahren – wegen seiner notorisch sexistischen, diskriminierenden und oft auch rassistischen Bemerkungen am Hals. Das wäre gut so – und es gäbe auch Stoff für manche Folge her.

Doch im Kern müsste Gregory House auch in einem Remake bleiben, wer er war: Gregory House. Und auf jeden Fall müsste er wieder mit dem dafür prädestinierten Hugh Laurie besetzt werden. Der Brite – ein Weggefährte von Emma Thompson und Stephen Fry – schaffte mit dieser Rolle den Wesensruck vom beredten Komödianten zum kantenreichen Charakterschauspieler. Ohne "House" hätten wir Laurie wohl nie als skrupellosen Waffenhändler Richard Roper in "The Night Manager" gesehen; ebenso wenig als scham- und gewissenlosen Politiker Peter Laurence in "Roadkill". Und das wäre ein Verlust.

So sehr "House" – mit Einschränkungen – seine Daseinsberechtigung auch heute noch hat: Mit Krankenhausserien ist das Streamingpublikum heutzutage weitestgehend durch. Ja, da ist noch "Grey's Anatomy", aber die Saga droht zum lebenden Fossil zu werden. Man hätte nach fünf, sechs Staffeln den Absprung wagen sollen. Dann wäre sie irgendwann vermisst und wiedergefunden worden. Aber nun, nach 20 zähen Jahren, ist es zu spät. Für alles – auch für Wiederbelebungsversuche. (Gianluca Wallisch, 18.2.2024)