Eines der Hauptargumente in der Debatte um künstliche Intelligenz ist ja, dass mehr Zeit bleibt, um sich mit wirklich erfüllenden Dingen im Leben zu beschäftigen, wenn erst einmal alle nervigen Tätigkeiten wegautomatisiert sind. Doch was zählt eigentlich zu diesen erfüllenden Dingen?

Mit Tinder-Matches zu kommunizieren gehört für viele wohl nicht dazu. Denn wie sonst lässt es sich erklären, dass KI auch im Onlinedating immer mehr Einzug hält? Es gibt inzwischen Tools, die den Kurztext im Profil generieren oder bei der Auswahl der richtigen Fotos helfen. Sogar Tinder selbst bietet inzwischen an, die "Bio", also die kurze Selbstbeschreibung im Profil der Plattform, anhand der selbst angegebenen Interessen und Partnerschaftsziele zu erstellen.

Midjourney/pp

Die App Keys fügt dem eigenen Smartphone wiederum eine alternative Tastatur hinzu. Dort klickt man überhaupt nur noch an, ob die Antwort empathisch, schrullig oder flirty sein soll.

Auf die Spitze getrieben hat es aber wohl der Russe Aleksandr Zhadan. Er programmierte eine Software, die ganz automatisch für ihn tindert. Nach bestimmten Kriterien – Alkohol im Bild oder Sternzeichen in der Bio waren tabu – wählte das Programm zunächst die Profile aus, die infrage kommen. Bei jedem Match führte die Software schließlich in Eigenregie eine Unterhaltung.

Dazu griff Zhadan auf die Programmierschnittstellen der künstlichen Intelligenz ChatGPT und ihrer Vorgänger zu, die er an seine eigene Persönlichkeit anpasste. Da das Programm auch mit seinem Terminkalender verbunden war, konnte es sogar Dates für Zhadan planen – und das alles vollautomatisch.

120 Stunden programmiert

Nicht immer lief das glatt. So versprach die KI einer Frau etwa, dass er beim Date mit Schokolade und Blumen auftauchen würde. Doch da Zhadan nicht vom Versprechen seines digitalen Ebenbilds wusste, tauchte er beim Treffen mit leeren Händen auf.

Mit insgesamt 5.239 Frauen soll der 23-Jährige auf diese Weise kommuniziert haben. Rund 1.400 US-Dollar für die Nutzung des KI-Modells und rund 120 Stunden für die Programmierung soll Zhadan in sein Projekt investiert haben. Peanuts im Vergleich zu der Zeit und den Millionen Rubel, die er sonst für Dating ausgegeben hätte, behauptet Zhadan.

Unter den mehr als 5000 Frauen war auch die eine. Nachdem mehrere Treffen mit Karina Vyalshakaeva gut verlaufen waren, erinnerte ihn sein KI-Tool daran, dass es nun an der Zeit sei, ihr einen Heiratsantrag zu machen – was Zhadan in die Tat umsetzte. Dass Vyalshakaeva nicht von ihm persönlich, sondern seinen Algorithmen auserwählt wurde, wusste sie inzwischen.

Laut einer Umfrage der Datingplattform Ok Cupid sehen 70 Prozent der User es als Vertrauensbruch, das Profil oder Nachrichten mit KI generieren zu lassen. Ganz verhindern oder entlarven lässt sich die KI beim Dating aber wohl nicht.

Denn auch anderswo geben sich Maschinen immer öfter als Menschen aus. Einige Unternehmen versuchen etwa, menschliche Arbeitskräfte im Kundenservice zu reduzieren. Stattdessen übernehmen am Servicetelefon täuschend echte Sprachbots die Beschwerden über langsames Internet oder das nicht zugestellte Paket entgegen.

Eine hypothetische Zukunft

Die US-Firma Do Not Pay schlägt die Kundenservice-Hotlines wiederum mit ihren eigenen Waffen. Das Unternehmen bietet vollautomatische "KI-Anwälte" an, die im Namen von Kundinnen und Kunden bei Stromversorgern und Gesundheitsdienstleistern anrufen, um bessere Konditionen herauszuschlagen.

Wenn man diese Entwicklung mit etwas Fantasie weiterspinnt, ist man schnell dort, wovon die dystopische Serie Black Mirror schon vor Jahren in der Folge Hang the DJerzählte: Dort werden bei jedem Wisch in einer Dating-App virtuelle Klone des potenziellen Paares in einer virtuellen Situation auf ihre Kompatibilität geprüft. Funken muss es dann aber in der echten Welt.

In Zukunft könnten nicht mehr nur die künstlichen Intelligenzen von Kunden und Unternehmen vollautomatisch um die Stromrechnung streiten, sondern auch in Dating-Apps könnten bloß die digitalen Doppelgänger um die Gunst anderer Singles buhlen. Vielleicht wird sich Online-Dating eines Tages nur noch darauf beschränken, Menschen auf Dates zu treffen, welche die personalisierten Chatbots der echten Menschen miteinander ausgemacht haben. Und gehört das nicht zu den eigentlich erfüllenden Dingen im Leben, für die sich die ganze Automatisiererei lohnt? (Philip Pramer, 18.2.2024)