Der Gazakrieg beschäftigt die britische Innenpolitik. Seit den Hamas-Massenmorden vom 7. Oktober 2023 und der andauernden Militäroffensive Israels schwappt eine Welle von Antisemitismus über Großbritannien. Einer neuen Statistik zufolge nahm die Zahl von Zwischenfällen im vergangenen Jahr gegenüber 2022 um 167 Prozent zu; zwei Drittel der körperlichen Angriffe, Bedrohungen und Beleidigungen geschahen im letzten Quartal des Jahres. Unterdessen setzen propalästinensische Aktivisten einzelne Parlamentsabgeordnete durch gezielte Demonstrationen vor Wahlkreisbüros und Privathäusern unter Druck.

Vergangenen Montagabend versammelten sich mehrere Dutzend Demonstranten vor dem Privathaus des prominenten konservativen Hinterbänklers Tobias Ellwood. Der Oberstleutnant der Reserve (57) verlor im vergangenen Jahr den Vorsitz des Verteidigungsausschusses im Unterhaus, nachdem er Verständnis für die Agrar- und Energiepolitik des Taliban-Regimes in Afghanistan geäußert hatte. Die Protestierenden skandierten aber diesmal Parolen und schwenkten Plakate, auf denen Ellwood mit blutigen Händen als "Kriegsverbrecher" und "mitschuldig am Völkermord" denunziert wurde. Die Solidaritätsbewegung für Palästina (PSM) sprach von einem "legitimen Protest". Der Zorn der Aktivisten richtet sich gegen all jene Volksvertreter, die bei entsprechenden Unterhaus-Abstimmungen sowie in der Öffentlichkeit nicht einen sofortigen Waffenstillstand im Gazakrieg fordern. Offenbar besteht dabei die Vorstellung, die israelische Regierung werde einer Handlungsanweisung durch die frühere Kolonialmacht Folge leisten.

Seit Monaten werden in London immer wieder
Seit Monaten werden in London immer wieder "Märsche gegen Antisemitismus" veranstaltet.
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Als Helfer oder gar Mitschuldige am behaupteten Völkermord müssen sich seit Monaten vor allem Labour-Mandatsträger beschimpfen lassen. Dabei nehmen die Aktivisten gezielt jene Abgeordneten aufs Korn, deren Wiederwahl durch das Wahlverhalten der rund vier Millionen britischen Muslime beeinflusst werden könnte. So tauchten diese Woche im Ostlondoner Wahlkreis Ilford des Labour-Gesundheitssprechers Wes Streeting gefälschte Plakate auf. Sie zeigen das Logo der Arbeiterpartei mit dem Slogan "Wählt Labour für Genozid". Unter den Wahlberechtigten in Ilford bekennen sich 27 Prozent zum muslimischen Glauben.

"Genozid"

Örtliche Gruppen, empört über den "grotesken Genozid" in Gaza, haben die Aktivistin Leanne Mohamad als Unterhaus-Kandidatin nominiert. Zwar wird ihr im britischen Mehrheitswahlrecht kaum eine Chance zugebilligt; zieht sie aber genug Stimmen von Streeting ab, könnte dieser den Wahlkreis an die Tories verlieren.

Um sich vom grassierenden Antisemitismus unter dem früheren Labour-Chef Jeremy Corbyn zu distanzieren, hat Oppositionsführer Keir Starmer diese Woche seinem Labour-Kandidaten in der bevorstehenden Nachwahl von Rochdale nahe Manchester wegen antisemitischer Äußerungen die Unterstützung entzogen. Starmers Zögern, von Tory-Premier Rishi Sunak kritisiert, dürfte sich damit erklären, dass nun der berüchtigte Polemiker und Antisemit George Galloway, ein Ex-Labour-Mann, Favorit auf den Sieg im Wahlkreis ist.

Dass Antisemitismus keineswegs die Domäne der politischen Linken ist, demonstriert der Fall des ehrenamtlichen Bürgermeisters im lieblichen Kathedralstädtchen Salisbury. Atiqul Hoque, Schatzmeister der örtlichen Muslime-Vereinigung, wurde diese Woche wegen "beleidigender und unangemessener" Äußerungen auf sozialen Medien aus der konservativen Regierungspartei ausgeschlossen.

Starker Anstieg

Der am Donnerstag veröffentlichten Statistik der Lobbygruppe CST zufolge schnellte die Zahl der als antisemitisch identifizierten Zwischenfälle von weniger als 200 in den ersten neun Monaten 2023 im Oktober auf 1.330 hoch. Die schlimmste Woche war jene unmittelbar nach dem pogromartigen Hamas-Terror mit 1.300 Toten und mehr als 300 Entführten – Indiz dafür, so CST-Chef Mark Gardner, "dass hier die Hamas-Attacke gefeiert wurde". Erst später sei der Zorn auf Israels Militäreinsatz im Gazastreifen vorherrschendes Motiv geworden.

Die große Mehrheit der Zwischenfälle (81 Prozent) bestand aus Beleidigungen, vor allem auf sozialen Medien. Dazu zählt CST auch den Slogan "Free Palestine", sofern dieser Juden oder deren Einrichtungen verunglimpfe oder Teil längerer Schmähreden sei. Zu den landesweit 266 Tätlichkeiten gehörte der Angriff auf einen Juden, dem im schottischen Glasgow die Kippa vom Kopf geschlagen und mit einem Steakmesser zerschnitten wurde. Innenminister James Cleverly sprach von einer "schändlichen" Entwicklung und kündigte den Tätern "die volle Härte des Gesetzes" an. (Sebastian Borger aus London, 15.2.2024)