Kurz vor 15 Uhr war es am Samstag, als auf dem Münchner Odeonsplatz, keine fünf Gehminuten vom Tagungsort der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC), zwei Welten aufeinanderprallten. Dutzende Polizisten, zur Verstärkung aus allen Teilen Deutschlands angekarrt, postierten sich dicht an dicht an der Absperrung, die etwa 3.000 Menschen mit Ukraine- und Nato-Fahnen vor der historischen Feldherrnhalle von einem Protestzug trennte, der durch die Münchner Innenstadt zog und lautstark Slogans wie "No Nato", "Frieden schaffen ohne Waffen" und "Free Palestine" skandierte.

Während in dem von der Außenwelt weitgehend abgeschotteten Nobelhotel Bayerischer Hof Politprominenz aus aller Welt zusammentraf, machten auf Münchens Straßen tausende Gegnerinnen und Gegner des – wie Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock es nannte – weltweit wichtigsten "diplomatischen Speeddatings" ihrem Unmut Luft. Wie sehr die Welt gerade in Aufruhr ist, war da wie dort zu vernehmen. Von der "intensivsten Sicherheitskonferenz seit Jahren" sprach etwa Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP).

Tausende bekundeten auf dem Odeonsplatz ihre Solidarität mit der Ukraine.
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"Frieden durch Dialog" lautete der Titel der 60. MSC-Ausgabe, so wie auch in den vergangenen beiden Jahren stand auch heuer der Ukrainekrieg im Mittelpunkt. "Kriegstreiber unerwünscht" war das Motto der größten von insgesamt 20 Kundgebungen, die am Wochenende angemeldet waren. Bloß: Der russische Kriegsherr Wladimir Putin, mit dem sich viele der Demonstrierenden Dialog wünschten, war ohnehin nicht eingeladen.

Warnung vor Trump

Russland, beziehungsweise der Angriffskrieg, mit dem der Kreml seit fast zwei Jahren die Ukraine überzieht, stand aber auch so im Mittelpunkt der dreitägigen Tagung, die auch heuer wieder hochkarätige Gäste anzog. Neben US-Vizepräsidentin Kamala Harris, Dutzenden US-Kongressabgeordneten beider Parteien, Wolodymyr Selenskyj aus der Ukraine und dem Hausherrn Olaf Scholz kam etwa auch die ehemalige US-Außenministerin Hillary Clinton nach München.

Demonstration gegen die MSC in der Münchner Innenstadt.
IMAGO/Wolfgang Maria Weber

Der zweite große Abwesende neben Putin, nämlich Donald Trump, war auf dem Podium und in den Gängen des Bayerischen Hofs auch so in aller Munde. Der Name des wahrscheinlichen republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten fiel auf dem Podium wie in den Fragen des Publikums fast so oft wie jener des amtierenden Präsidenten Joe Biden. Bei einem "Ukraine Lunch" warnte Clinton davor, Trumps Drohungen, Nato-Staaten gegen Russland im Stich zu lassen, nicht ernst zu nehmen. Er habe Trump in die Ukraine eingeladen, damit er sich ein Bild vom "echten Krieg" in seinem Land machen könne und ihn "nicht nur auf Instagram" sehe, hatte zuvor ein sichtlich abgekämpfter Selenskyj gewitzelt. Und: "Ich würde mit ihm an die Front fahren." Antwort: Fehlanzeige.

Wolodymyr Selenskyjs Reise nach Bayern verlief enttäuschend.
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Und auch sonst kann Selenskyj seine Reise nach Bayern schwerlich als Erfolg verbuchen. Die Ukraine wartet seit Monaten auf neue US-Militärhilfen, die im Repräsentantenhaus auf Trumps Geheiß bisher zurückgehalten werden. An der Front, wo ohnehin schon an allen Ecken und Enden Mangel herrscht, bringt die Lähmung in Washington Kiews Armee in akute Bedrängnis. "Fragen Sie nicht die Ukraine, wann der Krieg endet, fragen Sie sich stattdessen selbst, warum Putin ihn noch immer fortsetzen kann", machte Selenskyj seiner Frustration Luft. Sein Land werde in einem "künstlichen Defizit" gehalten, was Artillerie und weitreichende Waffensysteme betrifft, auch deshalb habe die Ukraine jüngst die zehn Jahre lang gegen russische Truppen verteidigte Stadt Awdijiwka aufgeben müssen.

Wieder kein Taurus für Kiew

Deutsche Taurus-Marschflugkörper stehen auf Kiews Wunschliste Selenskyjs weit oben, doch Bundeskanzler Scholz ließ sich freilich auch in München nicht zu Zusagen hinreißen. Auf eine entsprechende Frage aus dem Publikum tat er schlicht kund, Deutschland sei bereits der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine, es liege nun an den anderen europäischen Ländern, hier endlich aufschließen. Und: "Schritt für Schritt entscheiden wir dann je nach Lage, was getan werden muss zum richtigen Moment." Deutschland werde jedenfalls in den kommenden Jahren und Jahrzehnten zwei Prozent seines Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung investieren, schließlich, so Scholz, sei "ohne Sicherheit alles andere nichts".

Christoph Heusgen, einst Angela Merkels UN-Botschafter und seit zwei Jahren Cheforganisator der MSC, stimmte schließlich in den Chor jener ein, für die Europa, vor allem Deutschland, besser heute als morgen mehr Geld für die Verteidigung in die Hand nehmen sollten. Die Forderungen von Trump, dass die europäischen Natostaaten mehr in ihre Armeen investieren müssten, seien keineswegs neu, sagte er. Und: "Wir müssen objektiv zugeben, dass Trump recht hat." Der Niederländer Mark Rutte, der auch drei Monate nach dem Wahlsieg des Rechtspopulisten Geert Wilders noch als Premier in Den Haag amtiert, rief Europa derweil zu mehr Selbstbewusstsein auf: "Wir sollten uns nicht immer über Trump beklagen und jammern, sondern etwas tun."

Zu allem Überfluss wurde schließlich im Bayerischen Hof auch noch auf offener Bühne deutlich, wie verfahren die Fronten in Washington sind. Selenskyj war gerade erst mit seinem verzweifelten Appell nach mehr Waffen fertig, da verglich der US-Senator Pete Ricketts, ein Republikaner aus Nebraska, Russlands Invasion kurzerhand mit der angeblichen "Invasion" der USA durch Migranten an der Südgrenze. Vizepräsidentin Harris, die im Herbst abermals als Joe Bidens Running Mate antreten dürfte, hatte zuvor vor "politischen Spielchen" auf dem Rücken der Ukraine gewarnt, die transatlantische Verbundenheit beschworen und versichert, Kiew bekomme alles, was es brauche. Nach zwei Jahren Krieg keine allzu verbindlichen Aussagen.

Auftritt der Witwe

Tatsächlich sorgte die Demokratin weniger mit dem für Aufsehen, was sie sagte, sondern damit, wem sie spontan die Bühne überließ: Während ihres Referats am Eröffnungstag hatten erste Meldungen vom Tod des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny in München die Runde gemacht. Die emotionale Ansprache seiner Witwe Julija Nawalnaja, in der sie Putin für den Tod ihres Mannes verantwortlich machte und zum Kampf gegen sein Regime aufrief, gehörte zu den – jedenfalls nach Außen hin – wenigen denkwürdigen Momenten der Jubiläums-MSC. Justizministerin Alma Zadić (Grüne), die den STANDARD am Rande der Konferenz in einem Münchner Café traf, sieht in dem Tod Nawalnys "auch ein Signal an den Westen und die Sicherheitskonferenz". Der Verdacht liege jedenfalls nahe, "dass Putin seine Finger im Spiel hatte".

Krisenherd Nahost

Der zweite große Krisenherd Nahost stand schließlich am Samstagabend im Bayerischen Hof auf dem Tapet. Auf der Galerie des Tagungsraums erinnerten Angehörige von Hamas-Geiseln an das Schicksal ihrer Verwandten, die seit fünf Monaten im Gazastreifen festgehalten. Israels Präsident Yitzhak Herzog, der am Rande der Konferenz auch mit Katars Ministerpräsident und Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani zusammentraf, erteilte einer Zweistaatenlösung mit den Palästinensern, wie sie von den USA und Europa gefordert wird, eine Absage, so lange nicht die Sicherheit Israels garantiert werden könne. Ägyptens Außenminister Sameh Shoukry warnte vor unkalkulierbaren Folgen einer Vertreibung der Palästinenser aus Gaza, sein saudischer Kollege Faisal bin Farhan Al Saud redete einer Zweistaatenlösung das Wort, zuerst müsse man sich aber um einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Terrorgruppe Hamas kümmern.

Draußen, auf dem Odeonsplatz, wurde derweil neben "Slawa-Ukrajini"-Sprechchören auch ein frommer Wunsch geäußert. "Wir wollen Frieden. Nicht nur in der Ukraine, sondern überall", rief eine Sprecherin auf der Demobühne und erntete Applaus. Bloß: Wie das gehen soll, wusste in München niemand so recht, weder im Bayerischen Hof noch auf dem Demonstrationen. (Florian Niederndorfer aus München, 18.2.2024)