Mädchen steht in einem Einkaufszentrum, hält sich am Geländer an und schaut weg
Menschen mit Friedreich-Ataxie haben Schwierigkeiten, frei zu gehen und das Gleichgewicht zu halten. (Symbolbild)
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Eva Eisenköck war 19 Jahre alt, als sie sich beim Sporteln immer ungeschickter anstellte. Auch zu Hause fiel es auf. "Ich war richtig patschert, ich konnte nicht einmal eine volle Teetasse zum Tisch tragen, ohne auszuschütten", erzählt die heute 37-jährige Oberösterreicherin. Dann begann sie beim Gehen zu torkeln. "Ich habe gemerkt, dass irgendetwas nicht stimmt. Aber man hofft halt die ganze Zeit, dass es etwas ist, das wieder vergeht", schildert sie. Doch es wurde nicht besser. Sie wurde bei zahlreichen Ärztinnen und Neurologen vorstellig, bis sie – sieben Jahre nach den ersten Symptomen – die Diagnose Friedreich-Ataxie bekam.

Das ist eine äußerst seltene Bewegungsstörung, die Wahrscheinlichkeit, daran zu erkranken, liegt bei 1:50.000. Betroffene tun sich schwer, das Gleichgewicht zu halten oder Arme und Beine zu steuern. Die ersten Symptome der genetisch bedingten neurologischen Erbkrankheit treten meist vor dem 25. Lebensjahr auf, Evas Verlauf ist typisch. Derzeit ist Friedreich-Ataxie nicht heilbar. Und sie verkürzt die Lebenserwartung. "Von Ausbruch der Krankheit bis zum Tod dauert es im Schnitt 15 bis 20 Jahre", sagt die Neurologin Sylvia Boesch. Sie leitet das Zentrum für seltene Bewegungsstörungen in Innsbruck.

Die Friedreich-Ataxie beruht auf einem Gendefekt, der dazu führt, dass der Körper zu wenig Frataxin herstellt. Das ist ein Protein, das die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, benötigen, um ordentlich arbeiten zu können. Der Mangel führt dazu, dass die Muskeln immer schwächer werden. Das betrifft auch den Herzmuskel. "Die Patienten sterben nicht an der neurologischen Erkrankung per se. Die häufigste Todesursache ist ein krankes Herz", sagt Boesch.

Junge Frau mit schwarzen Haaren und Brille lächelt in die Kamera
Sieben Jahre dauerte es, bis Eva Eisenköck (37) ihre Diagnose erhielt.
Eva Eisenköck

"Der ist ja besoffen"

Bei Jakob Mitterhauser zeigten sich die ersten Symptome mit 15 Jahren, seine Leistung beim Fußballspielen wurde immer schlechter, er musste sich beim Dehnen anhalten. Mit der Diagnose Friedreich-Ataxie war drei Jahre später klar, warum er auch auf einmal torkelte. Zumindest für ihn und sein Umfeld. Für Außenstehende ist nicht ersichtlich, was mit seinem Gang nicht stimmt. Deshalb hat der jetzt 31-Jährige auch schon oft Kommentare gehört, ob er betrunken sei. "Letztens war ich am Abend im Kino. Am Heimweg war es dunkel, und ich war müde. Beides verstärkt die Symptome. Eine Gruppe Jugendlicher rief mir nach: 'Boa, der is' besoffen'", erzählt Jakob. Manchmal zeigt er in so einer Situation seinen Behindertenausweis her: "Dann sind die Personen oft beschämt."

Die Betroffenen kämpfen nämlich mit etwas, das gesunde Menschen als selbstverständlich ansehen: der Eigenwahrnehmung im Raum. Man nennt das auch Propriozeption oder Tiefensensibilität. Die wird oft als unser sechster Sinn bezeichnet und ist dafür verantwortlich, dass wir unsere Körperteile zueinander und im Raum wahrnehmen und so zum Beispiel das Gleichgewicht halten können.

Bewegungstraining ist deshalb sehr wichtig, wenn man mit Friedreich-Ataxie lebt. Jakob etwa achtet mit Physiotherapie und Krafttraining darauf, dass er so fit wie möglich ist. Er ist leidenschaftlicher Ruderer, vier bis fünfmal die Woche trainiert er im Para-Ruder-Team. Er achtet auf seine Ernährung und nimmt seine mentale Gesundheit sehr ernst. Seine Work-Life-Health-Balance nennt er das. Und er ist international gut vernetzt, zum Beispiel als Botschafter bei der Friedreich's Ataxia Research Alliance (FARA), einer internationalen Organisation, die die Erforschung der Krankheit unterstützt.

Portraitfoto von einem jungen Mann mit grünem T-Shirt
Jakob Mitterhauser (31) schaut sehr auf seine mentale Gesundheit, nachdem er längere Zeit immer wieder Depressionen hatte. Er meditiert täglich und sucht den Kontakt zu anderen Menschen mit Friedreich-Ataxie.
Brigitte Bouroyen

Bis zum Rollstuhl

200 bis 300 Menschen leben in Österreich mit dem Gendefekt, dieser manifestiert sich also nur sehr selten. Die Verbreitung ist aber wesentlich höher, eine von 75 Personen trägt die Anlage in sich. "Das ist eigentlich total häufig. Die meisten von ihnen sind Anlageträger, ohne es zu wissen", sagt Boesch. Wenn zwei gesunde Personen, die das Gen in sich tragen, ein gemeinsames Kind bekommen, hat das eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, Friedreich-Ataxie zu bekommen. Übrigens: Den Gendefekt gibt es nur bei Personen europäischer, nordafrikanischer, nahöstlicher oder indischer Herkunft. Man vermutet, dass er im Mittelmeerraum entstanden ist und sich dann über Migrationsströme verbreitet hat.

Rund 50 Patientinnen und Patienten sind bei Neurologin Boesch und ihrem Team in Behandlung. "Im Durchschnitt dauert es acht bis zehn Jahre, bis Friedreich-Ataxie-Betroffene zumindest teilweise einen Rollstuhl brauchen", berichtet die Expertin. Solche Mittelwerte sind aber mit Vorsicht zu betrachten. Der tatsächliche Krankheitsfortschritt ist sehr individuell und hängt davon ab, wie stark der Gendefekt ausgeprägt ist.

Esteban Grieb etwa sitzt im Rollstuhl. Er ist vor kurzem 48 geworden und lebt seit mehr als 25 Jahren mit Friedreich-Ataxie. Das ist deutlich länger als der durchschnittliche Patient. Zu Beginn hat er sich zurückgezogen und versucht, die Krankheit zu verstecken. Der Grund: "Vorurteile bis zum Umfallen, beim Weggehen wurde ich oft gefragt, ob ich auf Drogen bin", erzählt er. "Niemand wollte wirklich wissen: 'Was hast du? Warum gehst du so, wie du gehst?'" Erst seit er im Rollstuhl sitzt, hört er keine solche Kommentare mehr. "Mit den unnatürlichen Bewegungen können die Menschen nichts anfangen, den Rollstuhl verstehen sie."

Mann sitzt im Rollstuhl, hält die Faust in die Luft und trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift
Esteban Grieb (48) lebt seit einem Vierteljahrhundert mit Friedreich-Ataxie – und wartet seitdem auf eine medikamentöse Behandlung.
Esteban Grieb

Meilenstein zum Schlucken

Bisher gab es keine ursächliche Behandlung der Krankheit, nur Symptomtherapie. Doch nun gibt es erstmals nach jahrzehntelanger ergebnisloser Suche Hoffnung. Seit etwa einem Jahr steht ein Medikament zur Verfügung, in den USA ist es bereits zugelassen – und seit vergangener Woche auch in der EU, für Patientinnen und Patienten ab 16. Darin ist der Wirkstoff Omaveloxolon enthalten, der die Mitochondrien stärkt. Dadurch verbessern sich neurologische Funktionen, insbesondere die Gehleistung, signifikant – der Verlauf der Krankheit wird verlangsamt oder sogar gestoppt. Einmal täglich schluckt man dafür eine Tablette.

Boesch und ihr Team im Innsbrucker Zentrum für seltene Bewegungsstörungen waren gemeinsam mit Zentren in Mailand und London als einer von drei Standorten an der europäischen Zulassungsstudie beteiligt. "Wir sind sehr froh und erleichtert, dass es diesmal geglückt ist", sagt sie. Die EU-Zulassung ist der vorläufige Höhepunkt, aber auch erst der Anfang. Jetzt muss verhandelt werden, wie das Medikament zu den Patientinnen und Patienten kommt.

Um Unterstützung kämpfen

Denn noch ist offen, ob es von den Gesundheitskassen bezahlt wird. "Unser Ziel ist, dass das Medikament für alle Betroffenen finanziert wird", sagt Jakob. "Nicht nur für jene, die jung sind und arbeiten, sondern auch für Patienten wie Esteban, der in Frühpension ist. Denn das Medikament kann seine Lebensqualität verbessern."

Aus Jakob spricht auch die Unzufriedenheit darüber, wie es derzeit mit Unterstützungen läuft. Er kennt zum Beispiel zwei Personen, die schon zehn Reha-Aufenthalte absolviert hatten und plötzlich ein ärztliches Gutachten für eine erneute Bewilligung einholen mussten. Die Reha ist für Friedreich-Ataxie-Patienten aber elementar wichtig. "Mir kommt vor, man will hier einfach sparen und denkt sich: 'Bei den Behinderten, da geht das schon'", kritisiert er.

Auch für Eva sind nicht nur alltägliche Bewegungen eine Herausforderung. Die gelernte Kindergartenpädagogin wurde zu spät diagnostiziert, bekommt daher keine erhöhte Familienbeihilfe und ist finanziell auf ihren Teilzeitjob als Verwaltungsassistentin angewiesen. Und Pflegegeld? "Wir haben innerhalb der Gruppe sehr unterschiedliche Einstufungen, die wir nicht nachvollziehen können. Ich habe Pflegestufe 1, das sind 192 Euro im Monat. Ich arbeite ja gerne, aber Vollzeit schaffe ich aufgrund der Symptome nicht. Für diesen Fall gibt es keine finanzielle Unterstützung", schildert sie.

Esteban ist sogar zweimal vor Gericht gegangen, um eine höhere Pflegestufe zu erwirken. Er war erfolgreich, doch das kostet Energie. "Vielen wird das Pflegegeld gar nicht bewilligt, oder die Einstufung ist sehr niedrig. Dann muss man vor Gericht gehen, das ist für viele aber eine große Hürde", meint er.

X-Men im echten Leben

Denn der Alltag ist für Friedreich-Ataxie-Betroffene schon anstrengend genug. Betroffene kämpfen mit starker Müdigkeit, ihren Muskeln fehlt es ständig an Energie. Die Tage vergehen auch unheimlich schnell, weil viele Dinge mit einer Bewegungsstörung einfach länger dauern. Zusätzlich zu den Therapien ist außerdem ausreichend Zeit für Erholung wichtig.

Esteban sieht es trotzdem positiv: „Wir sind die X-Men im realen Leben. Wir sind einfach anders. Ob schlecht oder gut, muss jeder selbst beurteilen. Für mich hat sich viel Positives daraus ergeben. Ich habe über die Krankheit zwei Bücher geschrieben, so etwas hätte ich sonst nie gemacht. Und das Allercoolste ist, dass wir uns gefunden haben", sagt er mit Blick auf Eva und Jakob. In der Friedreich-Ataxie-Selbsthilfegruppe bringen sie derzeit knapp 30 Menschen mit Ataxien zusammen, Freundschaften sind entstanden. Und das wirkt auch über die Gruppe hinaus. "Je offener ich bin, desto offener sind die Menschen auch mir gegenüber", weiß Eva heute. (Andrea Gutschi, 23.2.2024)