Am 11. Mai 1931 nahm der berühmte österreichische Orientalist Professor Paul Wittek sein Mittagessen auf der Terrasse eines Restaurants in der Nähe des Istanbuler Bahnhofs Sirkeci ein. Auf dem Bahnhofsgelände herrschte wie immer reges Treiben, doch an diesem Tag ging es besonders lebhaft zu. Papiere verschiedener Größe flogen durch die Straßen und sorgten für Aufregung unter den Kindern, die sie aufsammelten und den Passanten für ein paar Para anboten.

Wittek rief eines der Kinder zu sich, gab ihm ein paar Münzen und begann sich das Papierbündel genauer anzusehen. Kaum eine halbe Stunde später verließ der Professor aufgewühlt das Restaurant. Denn was der Wind durch die Straßen des Viertels wehte und von Kindern zum Kauf angeboten wurde, waren wertvolle osmanische Dokumente, einige sogar aus dem 15. Jahrhundert.

Schwarz-Weiß Foto, Bahnhofsgebäude
Der Istanbuler Hauptbahnhof Sirkeci um 1920.
Wikimedia Commons

Wittek fiel es nicht weiter schwer, die Quelle ausfindig zu machen: Eine lange Kolonne von wahllos mit Papier beladenen Pferdekarren kam von der Hagia Sophia zum Bahnhof Sirkeci hinabgefahren und hinterließ eine Spur von Papieren, die im Wind umherflatterten und die Straßen säumten. Am Bahnhof wurde das Papier bergeweise aus den Karren in offene Güterwaggons geworfen. Offenkundig war ein riesiger Archivbestand osmanischer Dokumente als Altpapier verkauft worden, und nun machte man sich daran, sie zur weiteren Verarbeitung zu verfrachten. Entschlossen, diesem Wahnsinn ein Ende zu setzen, verließ Wittek den Bahnhof und eilte zu seinen türkischen Kollegen, um sie davon in Kenntnis zu setzen.

Die Skartierung der Vergangenheit

So überraschend es auch erscheinen mag, doch die Ereignisse, die Professor Wittek in Istanbul miterlebte, führten schließlich zum Aufbau des größten osmanischen Archivs in Europa – der Orientalischen Sammlung der Bulgarischen Nationalbibliothek in Sofia. Doch was genau war geschehen? Auch wenn es schwierig ist, diese Ereignisse im Detail zu rekonstruieren, lässt sich die Geschichte im Großen und Ganzen wie folgt zusammenfassen: Im Jahr 1931 herrschte in der türkischen Gesellschaft eine Atmosphäre nervöser Spannung.

Der charismatische Staatsführer Mustafa Kemal Atatürk führte die neu gegründete Republik in die Moderne und versprach der entstehenden türkischen Nation eine glänzende Zukunft. In weniger als einem Jahrzehnt wurde eine große Zahl von Reformen durchgeführt, die darauf abzielten, die Bindungen an die osmanische Vergangenheit zu lösen und die ehemaligen Untertanen des Sultans zu Bürgern der Republik zu machen. Die weitreichenden Reformen, die von der Mehrheit der Bevölkerung mit großer Begeisterung aufgenommen wurden, zielten auf die Säkularisierung des Bildungswesens, die Angleichung des Rechtssystems an maßgebliche europäische Vorbilder, die Modernisierung der Kleidung nach europäischem Stil sowie die Gewährung voller politischer Rechte für Frauen, einschließlich – und früher als in vielen anderen europäischen Ländern – des aktiven und passiven Wahlrechts.

Zu den symbolträchtigsten Maßnahmen im Zeichen der Loslösung vom Osmanischen Reich gehörte die Sprachreform, wodurch unter anderem das lateinische Alphabet anstatt der jahrhundertealten arabischen Schrift eingeführt wurde.

Versteigerung der historischen Dokumente

In diesem Klima des Aufbruchs ersann ein Angestellter der Istanbuler Stadtverwaltung eine Strategie, die ihm genial erschien, um Mittel für den Wiederaufbau der vom Krieg zerstörten Wirtschaft der Stadt zu generieren. Im Herzen Istanbuls, in der Nähe der Hagia Sophia, stand ein altes Gebäude, das als "Byzantinisches Frauengefängnis" (Bizans Kadın Hapishanesi) bekannt war und als Lager für alte, nicht mehr gebrauchte Dokumente des osmanischen Finanzministeriums diente.

Die Behörden waren der Ansicht, dass diese nutzlosen Überbleibsel einer unliebsamen Vergangenheit als Altpapier verkauft und das leerstehende Gebäude vermietet werden könnte, um der Gemeinde dringend benötigte Einnahmen zu verschaffen. Es wurde eine Auktion organisiert, und die Papiere wurden an İzzet Halim Bey und M. Takforjan zum Preis von drei Kuruş und zwölf Para pro Oka (etwa 1,28 kg) Papier verkauft. Die Makler handelten im Auftrag eines Herrn Schneeberger, eines Schweizer Staatsbürgers mit Wohnsitz in Bulgarien und Hauptaktionär der Papierfabriken in Knjaževo (heute ein Stadtteil von Sofia) und Kostenets im Südwesten des Landes.

Öffentlicher Aufschrei

Mangels detaillierter Aufzeichnungen ist es nicht möglich, die genaue Menge der als Altpapier verkauften Archivalien zu ermitteln. Ausgehend von den in den Papierfabriken eingegangenen Sendungen – 110 Ballen in der Fabrik in Knjaževo und 73 Ballen in der Fabrik in Kostenets – handelte es sich jedoch um eine beträchtliche Menge. Der Transport dieser Tonnen von Papier über die etwa ein Kilometer lange Strecke zwischen dem Lager in der Nähe der Hagia Sophia und dem Bahnhof von Sirkeci zog sich über mehrere Tage hin. Mehrere türkische Historiker sowie prominente Intellektuelle äußerten in Zeitungen ihre Besorgnis und schickten Telegramme an die Regierung, um auf die fatalen Folgen der unklugen Entscheidung aufmerksam zu machen, die osmanischen Archivalien als Altpapier zu verkaufen.

Der angesehene Historiker M. Fuad Köprülü brachte das Thema vor das türkische Parlament und hielt eine ergreifende Rede über das Schicksal von Nationen, die ihre eigene Geschichte freiwillig aufgeben. Innerhalb von zwei Wochen entwickelte sich der Verkauf des Archivs zu einem öffentlichen Skandal von beträchtlichem Ausmaß. Doch es war zu spät, die Papiere waren bereits in Bulgarien. Die Öffentlichkeit forderte die Regierung auf, die Rückgabe des Archivs zu erwirken, und fragte sich, wie ein solch schwerwiegender Fehler passieren konnte. War es bloße Nachlässigkeit oder steckte eine Verschwörung dahinter?

Eine bulgarische Verschwörung?

Die Entscheidung, ein ganzes Archiv als Altpapier zu verkaufen, war natürlich derart verstörend, dass konspirative Erklärungen ins Kraut schossen. Insbesondere die Tatsache, dass das Archiv über einen armenischen Mittelsmann an die Bulgaren verkauft worden war, schürte das Misstrauen der türkischen Öffentlichkeit. In der Tat hatte die bulgarische Regierung bereits früher den potenziellen Wert der osmanischen Archivmaterialien erkannt und erhebliche Anstrengungen unternommen, um Dokumente zur bulgarischen Geschichte zu erwerben, wobei sie auch zu halblegalen Methoden griff.

1924 handelte der von der Regierung nach Istanbul entsandte Orientalist Vladimir Hindalov ein Geschäft mit dem Geschichtsprofessor Ahmed Refik aus: Gegen eine finanzielle Entschädigung kopierte Refik acht Aktenordner mit wichtigen osmanischen Dokumenten, die dann heimlich an das Bildungsministerium in Sofia weitergeleitet wurden. Refiks bezahlte Zusammenarbeit mit den Bulgaren dauerte bis Ende der 1920er Jahre. War nun also im Jahre 1931 die einmalige Gelegenheit gekommen, ein ganzes Archiv zu erwerben? Und hat die bulgarische Regierung womöglich die gesamte Operation eingeleitet, wenn nicht sogar organisiert?

Aus der Korrespondenz des bulgarischen Außenministeriums und dem weiteren Schicksal der Dokumente nach ihrer Ankunft in Bulgarien lässt sich allerdings nicht erkennen, dass die Regierung hinter dem Erwerb des Archivs stand. Mehr noch, sie wusste nicht einmal von den oben beschriebenen Ereignissen. Erst am 22. Mai 1931, als der Botschafter in Ankara einen Brief an das Außenministerium sandte, um das Kabinett über den Skandal in der Türkei zu informieren, über den die Medien ausführlich berichteten, erfuhr auch die bulgarische Regierung von der heiklen Angelegenheit.

Prüfung der Regierung

Der Minister leitete das Botschafterschreiben an den Direktor der Nationalbibliothek weiter und bat um Überprüfung der aus der Türkei eingetroffenen Dokumente. Am 29. Mai besuchte Direktor Jordanov in Begleitung des bereits erwähnten Hindalov die Papierfabrik in Knjaževo und entdeckte tonnenweise osmanische Dokumente, die in großen Ballen verpackt im Hof der Fabrik verstreut waren. Der Fabrikdirektor teilte den beiden Besuchern mit, dass fünf Tonnen des Papiers bereits in der Fabrik verarbeitet worden seien und es geplant sei, die restlichen 22 Tonnen innerhalb der nächsten zwei Wochen zu verarbeiten. Jordanov meldete die Situation dem Bildungsminister und bat um die Einsetzung einer Kommission, die den historischen Wert der Papiere bewerten und entscheiden sollte, ob sie aus staatlichem Interesse erhaltenswert seien.

Es dauerte eine weitere Woche, bis die Regierung eine Entscheidung über die Ernennung und Bezahlung der Kommission traf. Die Situation spitzte sich dramatisch zu, als der Fabrikdirektor die Regierung darüber informierte, dass die Türkei offiziell die Rückgabe der Papiere fordere. Er drängte die bulgarischen Behörden zu einer raschen Entscheidung und warnte, dass er das restliche Papier verarbeiten würde, wenn bis Ende des Tages keine Entscheidung getroffen würde.

Fotografie der Fabrik
Die Papierfabrik in Konstenets.
Wikimedia Commons

Letztlich erwies sich der Druck aus der Türkei als entscheidend. Frei nach dem Motto "wenn die Türken etwas zurückfordern, dann muss es wertvoll sein" beschloss die bulgarische Regierung, die Dokumente zu retten und die Papierfabriken zu entschädigen. Trotz mehrfacher Aufforderungen der türkischen Regierung und erst nachdem türkische Agenten den Lagerort der Dokumente ausfindig gemacht hatten, gab Bulgarien etwa 50 große Säcke (etwa eine Tonne) an die Türkei zurück. Der große Rest wurde in der Militärschule in Sofia versteckt und harrte der Bearbeitung zu einem günstigeren Zeitpunkt.

Der lange Weg zurück ins Archiv

In Anbetracht der langsamen und unkoordinierten Reaktion der bulgarischen Regierung kann also kaum von einer Verschwörung ausgegangen werden. Bevor die Beamten die Gelegenheit hatten, die Papiere zu prüfen, waren bereits fünf Tonnen historischer Dokumente von unschätzbarem Wert zu neuem Papier verarbeitet worden. Es ist unmöglich, das Ausmaß des Dokumentenverlustes im weiteren Verlauf der 1930er Jahren zu bestimmen, da die Regierung die Papiere von einem Lagerhaus ins nächste schaffte, um sie vor den türkischen Behörden zu verstecken.

Nachdem das Archiv in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren für Bulgarien "gesichert" worden war, bemühte sich die wissenschaftliche Elite des Landes, darunter namhafte Historiker wie Petăr Mutafčiev, ein einflussreicher Professor an der Universität Sofia, oder auch der österreichische Turkologe Herbert W. Duda, damals Präsident des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) in Sofia, darum, die Millionen von Dokumenten, die aus der Türkei erworben worden waren, in die damals noch bescheidene orientalische Sammlung der Nationalbibliothek aufzunehmen.

Außenaufnahme der Bibliothek
Die bulgarische Nationalbibliothek in Sofia.
Wikicommons

Der Bedarf an ausgebildeten Turkologen verzögerte jedoch die Bearbeitung des geretteten Dokumentenschatzes. Gerüchten zufolge soll Paul Wittek angesprochen worden sein und sich auch bereit erklärt haben, die Leitung des künftigen Osmanischen Archivs in Sofia zu übernehmen. Doch der Krieg änderte alles. Mutafčiev starb 1943, und im selben Jahr wurde Duda Professor an der Universität Wien. Wittek wurde von der kommunistischen Regierung, die 1944 die Macht in Bulgarien übernahm, zum Faschisten erklärt und blieb daher in London, wohin er 1940 geflohen war. Die einst als nutzlos angesehenen Dokumente wurden schließlich im Lauf der kommunistischen Periode erschlossen und stellen heute eines der wichtigsten Archive Südosteuropas dar, das jedes Jahr von zahlreichen Forschern besucht wird. (Grigor Boykov, 27.2.2024)