6,4 Prozent. So viel wird heuer voraussichtlich die indische Wirtschaft wachsen. Das südasiatische Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern zählt damit zu den globalen Spitzenreitern – und gilt als große Hoffnung, was künftiges Wachstum und Investitionen betrifft. Bis Mitte des Jahrhunderts soll Indien von der derzeit fünft- zu drittgrößten Wirtschaft der Erde aufsteigen.

Kein Wunder, dass europäische Unternehmen Schlange stehen. Sie wollen Produktionsstätten gründen und die Bevölkerung als Kundschaft gewinnen. Auch eine Delegation des Wirtschaftsministeriums unter Martin Kocher (ÖVP) reiste vergangene Woche nach Indien, mit Vertretern von 18 österreichischen Unternehmen im Gefolge.

In der Metropole Mumbai drehen sich viele Kräne – und Europa würde gerne größer ins Geschäft mit Indien einsteigen
In der Metropole Mumbai drehen sich viele Kräne – und Europa würde gerne größer ins Geschäft mit Indien einsteigen.
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Besondere Hoffnungen weckt ein geplantes Freihandelsabkommen der EU mit Indien. Mit seiner Hilfe sollen etwa Zölle sinken und sichere Rahmenbedingungen für Investitionen durchgesetzt werden. Bereits seit dem Jahr 2013 laufen die Verhandlungen zwischen der EU-Kommission und der indischen Regierung; zwischenzeitlich unterbrochen, wurden sie 2021 wieder aufgenommen. Unter Handelsexperten gilt das Abkommen unter anderem deshalb als wichtig, weil die EU sich einen privilegierten Zugang zum indischen Markt sichern will, bevor es andere Wirtschaftsräume stärker tun, beispielsweise asiatische Staaten. Bei der wirtschaftlichen Erschließung des wichtigen Indien zurückzufallen, das gilt als Gefahr für die europäische Wirtschaft.

Schwierige Verhandlungen

Doch die Verhandlungen gestalten sie schwierig. Ein besonders umstrittener Punkt ist ausgerechnet ein Thema, bei dem die EU ein globaler Vorreiter ist: der Klimaschutz.

Der Hintergrund: Im Herbst vergangenen Jahres führte die EU den sogenannten CBAM ein ("Climate Border Adjustment Mechanism"), landläufig Klimazoll genannt. Diesen müssen Nicht-EU-Unternehmen auf besonders klimaschädliche Produkte wie etwa Stahl oder Düngemittel entrichten, sobald ihre Waren die EU-Grenzen passieren. Warum? Innerhalb der EU zahlen europäische Unternehmen diverse Abgaben ihre klimaschädliche Emissionen, etwa in Form von CO2-Steuern oder Emissionszertifikaten. Weil Unternehmen aus anderen Weltteilen hingegen häufig keine Kosten für das CO2 berappen müssten, würden die Europäer dadurch im internationalen Wettbewerb höhere Kosten zu tragen haben und Nachteile erleiden. Eben dies soll der CBAM ausgleichen: Was EU-Unternehmen innerhalb der EU an CO2-Kosten haben, bekommen Nicht-EU-Unternehmen als Klimazoll aufgebrummt, sobald sie Waren nach Europa einführen.

"Export" von Klimaschutz

Es gibt aber eine Möglichkeit für Nicht-EU-Unternehmen, sich den Klimazoll zu ersparen: Wenn es in ihren Heimatländern ebenfalls CO2-Bepreisungssysteme gibt, deren Kosten jenen innerhalb Europas entspricht, fällt er nicht an. Der Hintergedanke: Wer in die ökonomisch mächtige und kaufkräftige EU exportieren will, sollte tunlichst im eigenen Land einen CO2-Preis einführen. Auf diesem Weg will die EU den Klimaschutz auf die globale Ebene heben.

Aufgrund all dessen geht es in den Verhandlungen um das Freihandelsabkommen auch darum, ob Indien einen CO2-Preis bekommt – denn nur dann können indische Waren ungehindert über die EU-Grenze. Aber: Die Inder wollen nicht. Das Land steckt mitten in einer rasanten Entwicklung; man modernisiert Städte und baut im großen Stil neue Bahnstrecken und Flughäfen. Und all das soll nicht durch einen CO2-Preis gebremst werden.

Vertreter Indiens bringen auch gern einen moralisches Argument vor: Pro Einwohner gerechnet stößt Indien viel weniger CO2 aus als die EU, nur rund ein Viertel. Warum, fragen die Inder, sollte Indien CO2 bepreisen und dafür beispielsweise dringend notwendige Investitionen in die Infrastruktur bremsen? Das sollte doch vielmehr das hochentwickelte Europa tun.

"Der Mist dort oben"

In diesem Sinne fielen auch die Worte des indischen Industrieministers Piyush Goyal von der hindunationalistischen Partei BJP in der Hauptstadt New Delhi am vergangenen Mittwoch aus. Bei einer Diskussion vor europäischer Zuhörerschaft deutete er Richtung Himmel und sagte bezogen auf die Erderhitzung: Indien sei im Vergleich zu den Europäern "kaum verantwortlich für den Mist, der dort oben passiert". Das EU-Indien-Abkommen "wird jedenfalls den Test von Fairness und Ausgewogenheit zu bestehen haben". Und der indische Minister fügte hinzu: "Es wird keine bessere Geschäftsmöglichkeiten auf der Welt geben als in Indien in den kommenden zwei bis drei Jahrzehnten".

Die Inder sind sich dessen bewusst, dass sie derzeit auf dem längeren Ast sitzen. Aber: "Wenn man von der Rhetorik abstrahiert, ist es klar, dass beide Seiten profitieren", sagt Martin Kocher im Gespräch mit dem STANDARD und anderen Medienvertretern. Immerhin könne auch Indien künftig dank des Abkommens größer ins Geschäft mit der EU einsteigen und etwa seine Exporte Richtung Europa hochfahren, so der österreichische Minister. Goyals Worte seien "vor dem Licht zu sehen, dass bald Wahlen in Indien sind".

Zähe Gespräche

Allerdings erzählen Kenner der Verhandlungen, dass die tatsächlichen Gespräche hinter verschlossenen Türen kaum besser laufen, als die harten Ansagen auf offener Bühne klingen: Streitpunkte lassen sich ausräumen, die Klimafrage ist ein echter Streitpunkt, die Debatten sind anhaltend zäh.

Der CBAM jedenfalls ist in ihnen nicht mehr verhandelbar. Das Klimazollpaket trat vergangenen Herbst bereits in Kraft; derzeit läuft eine Art Pilotvariante, die im Jahr 2026 in die Vollversion übergehen wird. In den Gesprächen mit Indien kann es deshalb nur noch darum gehen, in welcher Form Indien ebenfalls einen CO2-Preis einführt – sofern die Regierung nicht letztlich noch nachgibt und akzeptiert, dass indische Unternehmen an der EU-Grenze den Klimazoll bezahlen müssen. In jedem Fall hat das EU-Indien-Handelsabkommen noch einen weiten Weg vor sich. (Joseph Gepp aus Mumbai, 24.2.2024)