Es ist eine absurde Veranstaltung, die der Chef des Russischen Roten Kreuzes (RRK) im Dezember 2022 in Moskau besucht. Russland führt da schon seit Monaten einen brutalen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland und bombt ukrainische Städte in Schutt und Asche, zehntausende Menschen sind gestorben. Und was macht Pawel Sawtschuk, der oberste russische Vertreter der weltweit wohl bekanntesten Hilfsorganisation? Er ehrt ausgerechnet die Firma Avangard – eines jener Unternehmen, das todbringende Raketen herstellt. Sawtschuk überreicht Blumen und eine Urkunde für Verdienste bei der Blutspende. Auch einen Hersteller von Militärflugzeugen zeichnet Sawtschuk aus. Die Botschaft ist klar: Das RRK und die Rüstungsindustrie stehen Seite an Seite.

Diese Botschaft ist ein Problem, weil das Rote Kreuz immer unparteiisch sein soll, nicht einer Nation verpflichtet, sondern einer Idee. Seit seiner Gründung 1863 lautet das Versprechen des Roten Kreuzes: Schutz von Menschenleben und Würde, unabhängig von Herkunft oder Weltanschauung. Deshalb ist es eines der angesehensten Institutionen der Welt. Der russische Ableger des Roten Kreuzes führt diese Prinzipien jedoch ad absurdum, wie eine internationale Recherche zeigt, die in diesen Tagen unter dem Titel "Kreml-Leaks" veröffentlicht wird.

Die Aktivitäten des Russischen Roten Kreuzes sorgen für Aufsehen.
Mart Nigola / Delfi Estonia

Es scheint, als habe der studierte Kinderarzt Pawel Sawtschuk, der 2021 als 26-Jähriger an die Spitze des Roten Kreuzes gewählt wurde, die Organisation endgültig auf Kreml-Linie gebracht: Die Hilfsorganisation ehrt nicht nur öffentlichkeitswirksam russische Rüstungsbetriebe und besucht mit vermummten Kämpfern einer militärischen Spezialeinheit eine Schule. Mehrere Vorstandsmitglieder unterstützen offen den Krieg gegen die Ukraine – und Sawtschuk selbst engagiert sich offenbar in einigen der wichtigsten Putin-treuen Gruppierungen des Landes. Die sammeln Geld für russische Soldaten, helfen bei der Anschaffung von Drohnen und Wärmebildkameras, beschimpfen Ukrainer als faschistisch und neonazistisch – und haben sich die Markenrechte am berüchtigten "Z", dem Symbol der russischen Invasoren, gesichert.

Die Pläne des Kreml mit dem Roten Kreuz

Geheime Dokumente aus dem Inneren des Kreml zeigen, dass der russische Ableger der renommierten Hilfsorganisation längst nicht mehr neutral ist. Die Strategiepapiere, Power-Point-Präsentationen und Budgetplanungen wurden dem estnischen Medium "Delfi" zugespielt, das sie mit dem STANDARD geteilt hat. Insgesamt haben elf Medienhäuser die Daten ausgewertet und verifiziert, darunter auch Paper Trail Media, das ZDF und der "Spiegel".

Das Russische Rote Kreuz spielt mittlerweile offenkundig eine wichtige Rolle in den Plänen des Kreml zu den bereits annektierten ukrainischen Gebieten. Laut dem humanitären Völkerrecht dürfen dort, wie immer in Kriegs- oder Konfliktgebieten, zwar Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) vor Ort sein. Das Russische Rote Kreuz aber, als Organisation einer Besatzungsmacht, dürfte dort gemäß den Rot-Kreuz-Statuten nur mit Erlaubnis des Ukrainischen Roten Kreuzes tätig werden.

Anweisungen von Putin

Doch die gibt es nicht. Man habe seit 2014 keinen Kontakt zum RRK gehabt und weder Zugang zu den besetzten Gebieten noch Informationen über dortige Aktivitäten des RRK, heißt es auf STANDARD-Anfrage. Zudem hat die ukrainische Regierung das Russische Rote Kreuz sanktioniert, ebenso dessen Präsidenten Sawtschuk. Dennoch plant der Kreml offenbar, in den bereits russisch besetzten Gebieten vier regionale und 62 lokale Zweigstellen des Russischen Roten Kreuzes aufzubauen, wie es in einem internen Dokument des Kreml aus dem Dezember 2022 heißt. Diese sollten, so heißt es an anderer Stelle im Leak, die humanitären Aufgaben des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im Donbass ersetzen. Der entsprechende Befehl kommt offenbar direkt von Putin. "Liste der Anweisungen des Präsidenten der Russischen Föderation", heißt es in einem Kommentar.

Beim IKRK heißt es, man habe keine Kenntnis von dem Vorhaben. Man könne und wolle sich deswegen nicht dazu äußern.

Putins Pläne sind mehr als ein Verstoß gegen seit Jahrzehnten eingeübte Praxis. Sie sind ein Frontalangriff auf das IKRK und das humanitäre Völkerrecht. Zu den wichtigsten Aufgaben des IKRK gehört der Einsatz in besetzten Gebieten, um etwa die Versorgung von Kriegsgefangenen sicherzustellen und Haftbedingungen zu dokumentieren. Derzeit hat das IKRK Büros in Donezk und Luhansk mit etwa 180 Mitarbeitern, allerdings verweigert Russland weitgehend den Zugang zu Gefangenenlagern – was laut Experten einen Bruch des humanitären Völkerrechts darstellt.

"Mitglieder der lokalen Bevölkerung"

Die Umsetzung von Putins Plan, das IKRK aus den russisch besetzten Gebieten zu verdrängen, scheint schon begonnen zu haben. Bereits vor einiger Zeit tauchten dort neue Akteure auf. Ihr Erkennungszeichen ist das Rote Kreuz, sie gehören aber weder zum IKRK noch zum ukrainischen Ableger – und angeblich auch nicht zum Russischen Roten Kreuz. Stattdessen nennen sich die Männer und Frauen "Rotes Kreuz Donezk".

"Wir kennen die Leute vor Ort und sind mit ihnen in Kontakt", heißt es beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz in Genf. Es seien keine Vertreter des RRK, sondern Mitglieder der lokalen Bevölkerung, die sich zusammengeschlossen hätten. Anerkannt sei die Organisation aber nicht.

Das Rote Kreuz betreut in Kriegsgebieten Flüchtlinge, etwa in Odessa.
IMAGO/Ukrinform

Das Rote Kreuz Donezk als eine Art lokale Bürgerorganisation? Recherchen des STANDARD werfen Zweifel an dieser Darstellung auf. So verbreitete die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass im Juni 2023 eine Meldung mit der Schlagzeile: "Das Russische Rote Kreuz lieferte die erste humanitäre Hilfe in die DVR (Donezker Volksrepublik, Anm.)". Wenige Stunden später korrigiert Tass die Nachricht – nun lieferte nicht mehr das Russische Rote Kreuz, sondern das Rote Kreuz Donezk. Dessen Leiterin ist Russin und hat es auch in Russland registriert. Das IKRK teilte auf Anfrage mit, man kooperiere seit 2014 mit der Organisation.

Russischer Rotkreuz-Chef bei der "Volksfront"

Wie weit die Vertreter des Russischen Roten Kreuzes mittlerweile vom Versprechen der Neutralität entfernt sind, zeigt sich an Pawel Sawtschuk, dem Mann an der Spitze. Der ist offenbar Mitglied in einigen der wichtigsten Putin-treuen Gruppierungen des Landes wie der von Putin gegründeten Allrussischen Volksfront (ONF) oder der russischen Propagandabewegung "Wir zusammen".

Bei der ONF sitzt Sawtschuk sogar im "Zentralstab". So stand es zumindest Anfang Februar auf deren Website. Nachdem DER STANDARD Rotkreuz-Organisationen und ihn damit konfrontiert hatte, verschwand sein Porträt von der Website. Das IKRK sagt, Sawtschuk sei nur bis März 2022 mit der ONF verbunden gewesen. Auf der Internetseite der Gesellschaftlichen Kammer der Russischen Föderation – einem von Putin ernannten Beratungsorgan – schreibt Sawtschuk jedoch weiterhin: "Ich bin Mitglied des zentralen Stabs der Allrussischen Volksfront."

Putin hat die ONF 2011 gegründet, bis heute steht er an ihrer Spitze. Die EU hat sie sanktioniert, da sie den russischen Angriffskrieg in der Ukraine unterstützt. Zudem ist Sawtschuk ein führendes Mitglied der "Wir zusammen"-Bewegung, deren Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz auch in den internen Kreml-Dokumenten beschrieben ist. "Wir zusammen" sammelt Geld und Material für den Krieg gegen die Ukraine. Auf einen detaillierten Fragenkatalog verwies das Russische Rote Kreuz nur auf einen russischen Gesetzestext: "Das Russische Rote Kreuz führt seine Tätigkeiten in Übereinstimmung mit den Statuten und Prinzipien der Rotkreuz-Bewegung aus." Der Kreml ließ die Anfrage des STANDARD unbeantwortet.

Sawtschuk sitzt auch in einem Preiskomitee von "Wir zusammen". Dort macht unter anderem auch Marija Lwowa-Belowa mit. Gegen sie erließ der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl wegen des Kriegsverbrechens der systematischen Kindesentführung in der Ukraine.

Das IKRK schreibt, man hätte dem Russischen Roten Kreuz klar kommuniziert, "dass eine Beteiligung an der Bewegung unvereinbar ist mit den Grundprinzipien der Rotkreuz-Bewegung".

Das Österreichische Rote Kreuz (ÖRK) hat nach Kriegsbeginn 2022 eine Einmalzahlung in Höhe von 50.000 Euro für die Unterstützung von Geflüchteten an das RRK überwiesen. Darüber hinaus gebe es keine Zusammenarbeit mit dem RRK. Zahlreiche konkrete Fragen ließ das ÖRK unbeantwortet.

Über mögliche Strafmaßnahmen gegen den russischen Ableger müsste die Internationale Föderation der Rotkreuz- und Halbmondgesellschaften (IFRC) entscheiden, der Dachverband aller nationalen Organisationen und damit neben dem IKRK die wichtigste Institution der Rotkreuz-Bewegung. Im Governing-Board sitzt seit Juni 2022 ausgerechnet: Pawel Sawtschuk – der Rotkreuzler von Putins Gnaden. (Elizaveta Antonova, Mattias Carlsson, Jonas Halbe, Carina Huppertz, Anastasia Morozova, Frederik Obermaier, Svetlana Reiter, Timo Schober, 27.2.2024)