Abraham Aiyash sitzt vor einem Bücherregal mit Titeln wie "Big Little Steps" und erzählt von den Anfängen seiner politischen Karriere. Im Jahr 2008 kämpften Hillary Clinton und Barack Obama um die Kandidatur fürs Weiße Haus. Aus Gründen, über die bis heute gestritten wird, verzichtete Obama darauf, bei den Vorwahlen in Michigan anzutreten. Sein Name stand folglich nicht auf den Stimmzetteln, was bei Obamas Anhängern für heftige Irritationen sorgte. Und für ein Manöver demonstrativen Protests. Aiyash, damals ein Teenager, lief in seiner Heimatstadt Hamtramck von Haus zu Haus, um darum zu bitten, dass man auf dem Zettel das Feld "neutral" ankreuzen möge, statt notgedrungen für Hillary Clinton zu stimmen.

Abraham Aiyash im Café Kitab in Hamtramck, einer der vielen Satellitenstädte rund um Detroit. Neben ihm Layla Elabed.
Frank Herrmann

Heute leitet der 30-jährige Sohn jemenitischer Einwanderer die Fraktion der Demokraten im Parlament Michigans, und erneut macht er sich für die Neutralität stark. Erneut ist Primary in Michigan, eine Primary, die Joe Biden als gelaufen verbuchen kann, hat er es doch lediglich mit zwei chancenlosen Kontrahenten zu tun. Aber das Wahlrecht bietet eben auch die Möglichkeit, in Michigan wie in einigen wenigen weiteren Bundesstaaten, die Option "uncommitted" zu favorisieren, "neutral" oder auch "ungebunden", was als Ohrfeige für alle zur Wahl Stehenden zu verstehen ist. In diesem Fall als Denkzettel für Joe Biden.

Video: Denkzettel für Biden bei Vorwahl in Michigan
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Botschaft an die Regierung

"Das wird einige Leute im Weißen Haus zu Tode erschrecken", prophezeit Aiyash. Und schickt eine Botschaft an die Regierung hinterher. "Glaubt nicht, dass ihr uns mit ein paar netten Gesten abspeisen könnt. Glaubt nicht, es wächst Gras über die Sache. Glaubt nicht, jemand von euch muss nur mal mit uns reden, dann überzeugt ihr uns schon. Ändert eure Nahostpolitik, nur das überzeugt uns, sonst nichts."

Das Café Kitab, das Café Buch, wenn man es aus dem Arabischen übersetzt, ist viel zu klein, um allen, die Aiyash zuhören wollen, Platz zu bieten. In Hamtramck, einer der auf den ersten Blick reichlich trist wirkenden Städte, die zusammen den Ballungsraum Detroit bilden, gibt es etliche Geschäfte mit arabischen Namen. Rund sechzig Prozent der Bewohner sind Muslime, die meisten haben familiäre Wurzeln im Jemen, andere in Bangladesch und Pakistan, etliche im Nahen Osten. Und mag die Außenpolitik oft nur das fünfte Rad am Wagen amerikanischer Wahlkämpfe sein, in Hamtramck ist das diesmal anders. Wie auch in Dearborn, einer Stadt, deren Aufstieg einst eng mit den Autofließbändern Henry Fords verbunden war. Der Anteil von Amerikanern arabischer Herkunft an der Bevölkerung ist dort so hoch wie nirgendwo sonst in den Vereinigten Staaten; er liegt bei 55 Prozent.

Swing State

Ob in Hamtramck oder Dearborn, der Krieg im Gazastreifen lässt die Emotionen hochkochen. Nicht nur das, er hat auch zur Folge, dass sich Menschen, die im Herbst 2020 noch jubelten, als Biden das Duell gegen Trump gewann, enttäuscht, ja, verbittert von ihm abwenden, weil er nach ihrem Gefühl zu wenig tut, um Benjamin Netanjahu zum Innehalten zu zwingen. Welche Gefahren die Stimmungslage für Biden birgt, macht ein Blick auf den Wahlatlas der USA deutlich. Michigan gehört zu den Swing States, in denen es oft auf der Kippe steht zwischen Demokraten und Republikanern, in denen sich entscheidet, wer im Oval Office regieren darf. 2016 waren es 10.704 Stimmen, die Hillary Clinton im Zehn-Millionen-Einwohner-Staat Michigan für den Sieg gegen Donald Trump fehlten. 2020 holte Biden in Michigan 154.188 Stimmen mehr als Trump, was maßgeblich dazu beitrug, ihm den Weg ins Weiße Haus zu ebnen. Bleiben zu viele von Bidens damaligen Wählern im Herbst 2024 zu Hause, kann es bedeuten, dass Trump in Michigan ein Comeback feiert – und nicht nur dort, sondern auch im Weißen Haus.

Eine Demo gegen Joe Bidens Nahostpolitik vor dem Rathaus von Hamtramck.
Frank Herrmann

Andy Levin, einst Abgeordneter im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, einer vom linken Flügel der Demokraten, hat es in schnörkelloser Prosa auf den Punkt gebracht. "Ich weiß nicht, wie man die Präsidentschaft gewinnen will, ohne in Michigan zu gewinnen. Und ich sehe nicht, wie Biden im November in Michigan gewinnen kann, ohne seinen Kurs zu ändern." Levin, Spross einer jüdischen Familie, die bereits einige Politiker von Rang hervorgebracht hat, hofft auf ein Warnsignal, das Biden dazu bringt, energischer bei der israelischen Regierung zu intervenieren, damit die Waffen im Gazastreifen schweigen. Abdullah Hammoud, der Bürgermeister Dearborns, Sohn von Migranten aus dem Libanon, hat es in einem Meinungsbeitrag für die "New York Times" in emotionalen, bitteren Worten zugespitzt. Biden, schrieb er, fordere einmal mehr die Unterstützung der Arab-Americans ein, "während er zur selben Zeit genau die Bomben verkauft, die Benjamin Netanjahus Armee auf unsere Verwandten und Freunde abwirft". "Es fühlt sich an, als habe unser Präsident uns den Rücken zugekehrt."

Ähnlich sieht es Layla Elabed, Mitbegründerin einer Initiative, die sich Listen to Michigan nennt und die straff organisiert dafür wirbt, Biden einen Schuss vor den Bug zu geben – durch ein "uncommitted" auf dem Primary-Stimmzettel. Der Präsident, glaubt sie, werde das Zeichen des Protests schon verstehen und in sich gehen: "Okay, ich muss auf diese Kerngruppe meiner Wählerschaft hören, daher muss ich etwas ändern."

Palästinensischstämmige Abgeordnete

An einem kalten, windigen Sonntag im Februar spricht sie, in den Händen gleich zwei Mikrofone, in einem kleinen Park vor dem Rathaus von Hamtramck von dem Schmerz, den sie täglich empfinde angesichts dessen, was im Gazastreifen passiere. Um sie herum ein Kreis von Demonstranten. Poster, auf denen "Ceasefire Now!" ("Waffenstillstand jetzt!") oder "No Ceasefire – No Vote!" ("Kein Waffenstillstand – keine Stimme") zu lesen ist. "Als Palästinenserin fällt es mir sehr, sehr schwer, einen Kandidaten zu unterstützen, der sich zum Komplizen macht, wenn meine Brüder und Schwestern in Gaza getötet werden", sagt Elabed. Ihre Eltern stammen aus dem Westjordanland, aus Beit Ur al-Fauqa, einem Dorf bei Ramallah. Ihre Schwester Rashida Tlaib vertritt einen Wahlkreis des Großraums Detroit im US-Kongress. Später, im Gespräch mit dieser Zeitung, macht Elabed deutlich, dass es einstweilen nur darum geht, Biden eine Botschaft zu senden. Ihm vor Augen zu führen, was er riskiert. Ohne die Tür zuzuschlagen, immer in der Hoffnung auf Versöhnung. Das eigene politische Gewicht in die Waagschale werfen, aber den Weg zur Wiederannäherung nicht versperren. So ließe sich zusammenfassen, wie Elabed ihr Konzept skizziert.

Layla Elabed, Mitbegründerin der Initiative Listen to Michigan, spricht zu Protestierenden in Hamtramck.
Frank Herrmann

Was aber, wenn am Ende nur einer von dem Protest profitiert? Allein Donald Trump? Gretchen Whitmer, die Gouverneurin Michigans, mit Blick auf das Votum 2028 eine Hoffnungsträgerin der Demokratischen Partei, hat genau das zum Thema gemacht. "Man darf nicht aus dem Auge verlieren, dass jede Stimme, die nicht für Joe Biden abgegeben wird, eine zweite Amtszeit Trumps begünstigt", warnte sie im Sender CNN. Wohlgemerkt, die zweite Amtszeit eines Mannes, der in seiner ersten den "Muslim Ban" propagiert habe, eine Einreisesperre für Bürger einiger islamisch geprägter Staaten.

Abraham Aiyash, im Café Kitab vor dem Bücherregal, ist die Erregung anzumerken, wenn er gefragt wird nach dem, was einer im Raum das Trump-Gespenst nennt. Da redet er sich richtig in Schwung. "Klar, das Establishment der Demokratischen Partei wird euch fragen, seid ihr verrückt, ihr wollt wieder Trump im Weißen Haus? Wisst ihr denn nicht, was er euch antun wird?" Es sei der Versuch, den Leuten Angst einzujagen, nicht für den eigenen Kandidaten zu werben, sondern vor dem anderen zu warnen. Das kleinere Übel wählen, darauf laufe es hinaus. "Aber ich sage euch was", wettert Aiyash, "wir spielen es nicht mehr mit, das Spiel mit dem kleineren von zwei Übeln." Die Regierung müsse schon zuhören, sie müsse den Einspruch an der Basis ernst nehmen. Allein durch Panikmache lasse sich keiner mehr motivieren, jedenfalls nicht in Hamtramck. (Frank Herrmann aus Hamtramck, 28.2.2024)