Die Anwälte Albert Heiss und Mathias Kapferer stellen einen Enthaftungsantrag für den tatverdächtigen Vater, der seit einem Jahr in Untersuchungshaft sitzt.
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Es ist später Vormittag in einem Innsbrucker Innenstadthotel, im Raum "Seefeld" beginnt eine Pressekonferenz. Draußen lichtet sich gerade der Nebel, als Albert Heiss vor etwa zwei Dutzend Medienleuten damit beginnt, wortreich die Staatsanwaltschaft Innsbruck zu attackieren. "Mangelhafte Spurensicherung und Auswertung" wirft der erfahrene Rechtsanwalt den Ermittlern vor, "Verstoß gegen Grundsätze der Objektivität" – die Behörden hätten sich viel zu früh auf den Vater als möglichen Täter fokussiert und so mögliche entlastende Fakten eher nicht beachtet. Außerdem hätten die Behörden die Motivlage des Beschuldigten "völlig falsch eingeschätzt". Die Pannen-Anwürfe sind ernst, und sie richten sich auch gegen das Landeskriminalamt.

In Österreich posaunt man auch andernorts in diesen Tagen Kritik an Strafverfolgern laut hinaus. Doch in diesem Fall geht es nicht um die hohe Politik, in diesem Kriminalfall geht es um ein totes Kind: Leon A., sechs Jahre alt und mit angeborenem Handicap, ertrank im August 2022 frühmorgens in der Kitzbüheler Ache im Urlaubsort Sankt Johann. Zuvor soll sein Vater bei einem Spaziergang am Uferweg von einem Unbekannten bewusstlos geschlagen worden und das hilflose Kind ins reißende Wasser geraten sein – das ist zumindest die Version von Leons Vater.

Der Todesfall mit dem ungeklärten Raubüberfall löste Erschütterung und Anteilnahme aus, die über die Grenzen Österreichs hinausreichten. Vor einem Jahr dann die Wende: Die Behörden nahmen den Vater fest – er stehe unter Verdacht, die Attacke vorgetäuscht zu haben und hinter dem Tod seines Sohnes zu stecken. Die Ermittler glaubten, der Vater habe seinen unheilbar am seltenen Syngap-Syndrom erkrankten Sohn erlösen wollen, sagte der damalige Anwalt nach der Verhaftung. Also eine mutmaßliche Tat als Ausweg aus einer verzweifelten familiären Lage.

Vorwurf der schlampigen Beweismittelsicherung

Seitdem sitzt der Vater des toten Buben in Untersuchungshaft, in wenigen Tagen jährt sich seine Gefangenschaft zum ersten Mal. Den Anwalt hat er inzwischen gewechselt, der durchaus bekannte Albert Heiss verteidigt ihn medial offensiver als sein Vorgänger – mit einem Frontalangriff auf die Ermittler. "45 Jahre" sei er nun schon im Geschäft, sagt der Advokat. "Dieses Verfahren hindert mich daran, in Pension zu gehen."

Heiss fächert seine Angriffspunkte auf, sekundiert von seinem Kollegen Mathias Kapferer, der die Mutter vertritt. Am Tatort sei unsauber gearbeitet worden, behauptet Heiss, entsprechend seien die Beweismittel nicht verwertbar. Von der möglichen Tatwaffe, einer Glasflasche, seien etwa nur die Hälfte der Scherben aufgelesen worden – der Rest sei von einem Gemeindemitarbeiter entsorgt worden. Splitter seien am Kopf des Vaters nicht festgestellt worden, sagt Anwalt Kapferer zu STANDARD und "Spiegel". Aber man wisse ja nicht einmal sicher, dass die Flasche die Waffe gewesen sei, "es kann genauso gut ein Baseballschläger gewesen sein".

Gut ein Dutzend Gutachten hätte die Familie eingeholt, sagen die Anwälte, darunter von Fachleuten aus dem deutschsprachigen Ausland. Ein Experte habe etwa "17 Schlagversuche" unternommen. Dem Ergebnis zufolge ist es sehr abwegig, dass der Vater sich selbst die Wunde am Hinterkopf zugefügt haben könnte.

Und dann seien da noch männliche DNA-Spuren im Flaschenhals entdeckt worden, sagt Heiss. Nicht nur dort: Auch auf zwei Zigarettenstummeln wurde man fündig, es habe jeweils Treffer in der Datenbank gegeben. Ob die Männer ein Alibi für die Tatzeit vorweisen können, weiß der Verteidiger nicht. Es gibt aber demnach noch eine weitere Gen-Spur. "Auf dem Overall, den Leon bei seinem Tod trug, fand man männliche DNA", sagt Rechtsanwalt Kapferer, und zwar "im Brustbereich". Diese DNA habe bislang niemandem zugerechnet werden können, sagt Kapferer. Die Probe passe weder zum Vater noch zu Bekannten der Familie oder zum Rettungspersonal. Aber wer berührte Leons Kleidung sonst?

Anwälte und Privatgutachter gegen "Vorverurteilung"

Heiss und Kapferer versuchen auch die Erkenntnisse zu zerpflücken, welche den Ermittlern als Grundlage dafür dienten, Leons Vater in Haft zu nehmen. Zur "Vorverurteilung" (Heiss) hätte beigetragen, dass die Ermittler feststellten, der Vater habe vor Leons Tod bei Google nach dem Wort "Ohnmacht" gesucht. Das galt der Staatsanwalt als Beleg für die Vorbereitung des Vaters, den K.-o.-Schlag des Unbekannten zu simulieren.

Doch gerade für diesen neuralgischen Punkt soll ein Privatgutachter eine umfassende Erklärung gefunden haben. Demnach soll Familie A. etwa sechs Wochen Urlaub an der italienischen Adriaküste gemacht haben. Dort habe Leons Schwester in einem Restaurant gefragt, ob der Kontakt zu Feuerquallen gefährlich sei. Und da habe der Vater auf dem Handy nachgesehen. Diese Version stützt auch die Familie A., die damals mit anwesenden Großeltern Leons hätten entsprechende Erklärungen angegeben. Der Vater hätte nur etwa elf Sekunden auf der Seite nachgesehen, sagt Kapferer. So lange, wie man eben auf sein Handy sieht, wenn ein Kleinkind unbedingt etwas wissen will und man schnell etwas nachliest. Erodiert damit ein maßgeblicher Aspekt, der Vater A. belastet?

Die große Wende stellt die Pressekonferenz noch nicht dar, wohl aber stehen nun mehrere Ungereimtheiten im Raum. Die Staatsanwaltschaft Innsbruck sollte wenige Stunden nach der Pressekonferenz auf die Anwürfe von Heiss und Kapferer reagieren. Die Strafverfolger parierten die Vorwürfe offensiv in einer schriftlichen Erklärung: Wenn die Verteidigung Ermittlungsergebnisse in ihrem Sinn interpretiere, dann gehe es ihr offenbar darum, "bereits jetzt die späteren Richter – voraussichtlich Geschworene – zu beeinflussen". Man werde sich als Staatsanwaltschaft darum "bemühen, das Ermittlungsverfahren rasch zu beenden". Auf weitere detailliertere Fragen von STANDARD und "Spiegel" ging die Behörde nicht ein. Man werde sich "während des laufenden Ermittlungsverfahrens nicht zu Beweisergebnissen oder zu Anträgen und Vorbringen der Verteidigung äußern".

Die mediale Kanonade der Verteidigung hat ohnehin eine Schwachstelle: Die Anwälte legten bei der Pressekonferenz nichts Handfestes vor, keine Faktensammlungen von entlastenden Gutachten, nicht einmal die Namen der konsultierten Fachleute wollten Heiss und Kapferer nennen – zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Möglicherweise könnte sich das schon bald ändern. Denn schon am morgigen Freitag kommen Verteidiger und Staatsanwaltschaft in Innsbruck bei Gericht zusammen. Dann wird vor Gericht entschieden, ob Leons Vater weiterhin in Haft bleiben muss oder nicht.

Der Familie soll es gar nicht gut gehen, das lassen die Anwälte anklingen – auch wenn Leons Mutter "absolut loyal" zu ihrem Mann stehe: "Sie glaubt zu hundert Prozent, dass er die Tat nicht begangen hat", sagt Kapferer. Leons Vater habe seinen Job verloren, die Gutachten und die Anwaltskosten türmten sich zu immensen Summen. Wirtschaftlich sei das eine "Horrorvorstellung", sagt Heiss. Ähnlich sei es um das gesellschaftliche Ansehen gestellt, gerade was die Schuldfrage angeht. Natürlich gilt bis zu einer rechtsgültigen Verurteilung auch die Unschuldsvermutung. Die Bevölkerung in Leons Heimat habe jedoch durch die lange Untersuchungshaft wohl schon in weiten Teilen ihre Meinung gefestigt, so Senior-Anwalt Heiss: "Wenn Sie jemanden in Sankt Johann auf der Straße fragen, dann wird man Ihnen antworten: 'Der werd’s schon gewesen sein.'" (Oliver Das Gupta, 29.2.2024)