Herman Haluschtschenko ist seit 2021 Energieminister im Kabinett des ukrainischen Ministerpräsidenten Denis Schmyhal. Im Gespräch mit dem STANDARD erläutert er die schmerzvollen Erfahrungen der Ukraine mit der Atomenergie, den langwierigen Ausstieg Westeuropas aus russischem Gas und die realpolitische Annäherung der Ukraine an die EU über den Energiemarkt.

STANDARD: Sie nehmen am Obersten Rat der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) teil. Die Ukraine hat auf der einen Seite sehr traurige und sehr tragische Erfahrungen mit Atomenergie gemacht – Stichwort: Tschernobyl und Saporischschja –, zuletzt aber den Plan verkündet, die eigenen Kapazitäten zur Produktion von Atomstrom verdreifachen zu wollen. Wie passt das zusammen?

Haluschtschenko: Unsere traurige Erfahrung mit Saporischschja ist eine Erfahrung mit Russland. Das hat mit der Ukraine an sich nichts zu tun, sondern nur damit, dass Russland kommt und unseren Besitz raubt. Es zerstört damit alle Grundsäulen atomarer Sicherheit. Ich bin auch sicher, dass wir Saporischschja zurückholen werden. Und wir müssen eine nukleare Industrie entwickeln. Denn wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, werden wir den Anteil der Atomenergie verdreifachen müssen. Andernfalls wird es keine Energiewende geben. Das ist die Antwort, wieso wir uns dazu entschieden haben, unsere Kapazitäten auszubauen. Wir wollen aus der Kohle raus, die macht nach wie vor rund 25 Prozent aus. Diesen Kohleanteil müssen wir eben ersetzen. Und das andere Thema ist: Wir wissen nicht, in welchem Zustand Saporischschja sein wird – ob wir es benutzen können oder nicht. Ich glaube, die Russen werden versuchen, dieses Kraftwerk zu zerstören, um uns nicht zu erlauben, es wieder hochzufahren.

Herman Haluschtschenko (li.) mit IAEA-Chef Rafael Grossi in Kiew.
Herman Haluschtschenko (links) mit IAEA-Chef Rafael Grossi in Kiew.
REUTERS/VALENTYN OGIRENKO

STANDARD: Sie erwarten also eine nukleare Katastrophe?

Haluschtschenko: Die Russen sind dort. Und jeden Tag, an dem sie dort sind, besteht das Risiko eines Unfalls. Die Abnutzung des Equipments ist eine Tatsache, der Mangel an professionellem Personal ebenso – und zugleich wächst die Anzahl der Problemfelder: etwa die Frage der Kühlung und des Treibstoffs, der abgelaufen ist. Es gibt viele solche Fragen. Und es gab auch bereits einige Lecks. Das hat die IAEA auch bestätigt. Das Risiko wächst also jeden Tag.

STANDARD: Als die Ukraine 2022 in den Winter gegangen ist und Russland begonnen hat, gezielt die Energieinfrastruktur anzugreifen, haben manche den Kollaps vorhergesagt. Der ist nicht eingetreten. Russland hat es im vergangenen Winter wieder probiert. Und im zweiten Winter nach der großen Invasion hat die Ukraine dann bekanntgegeben, ihren Eigenbedarf an Gas selbst decken zu können. Ist das die Folge eines internationalen Engagements, oder ist das Folge eigener Anstrengungen?

Haluschtschenko: Es ist beides. Es liegt natürlich auch an der internationalen Hilfe. Über den Energie-Hilfsfonds der EU wurden mehr als 400 Millionen Euro gesammelt. Mit diesem Geld haben wir natürlich Equipment gekauft. Das ist eine Sache. Wir erleben gerade die größte Reparaturkampagne in der Geschichte. Wenn sie den vorherigen Winter und diesen Winter vergleichen, dann gibt es auch große Unterschiede. Im Winter 2022/23 haben wir Rationalisierungen und Stromabschaltungen gehabt. Die hatten wir jetzt nicht – nur wenn es Treffer gab. Und dann ist natürlich auch die Luftverteidigung besser.

STANDARD: Sie sind ja auch Mitglied des nationalen Sicherheitsrats. Würden Sie sagen, dass die Ukraine gewissermaßen immun geworden ist gegen die Verwendung von Energie als Waffe?

Haluschtschenko: Für uns hat dieser Krieg 2014 angefangen, und wir haben 2015 damit aufgehört, russisches Gas zu importieren. Wir haben damals auch damit begonnen, unseren Bezug von Kernbrennstoff zu diversifizieren. Hätten wir das nicht getan, hätten wir 2022 noch größere Probleme gehabt. Heute sind wir komplett unabhängig von russischem Kernbrennstoff. Die Diversifizierung ist in diesem Feld weit komplizierter als bei Gas. Gas findet man irgendwo auf dem Markt – Kernbrennstoff hingegen ist eine sehr komplizierte Ware. Da kann man nicht einfach damit aufhören, ihn von einer Seite zu beziehen, und ihn anderswo kaufen.

Saporischschja (Archivbild) ist momentan ein Gefahrenfaktor der ukrainischen Energiepolitik.
Saporischschja (Archivbild) ist momentan ein Gefahrenfaktor der ukrainischen Energiepolitik.
IMAGO/Dmytro Smolyenko

STANDARD: Sie haben das Wort Diversifizierung selbst in den Mund genommen. Die Ukraine hat 2014 damit begonnen, andere haben 2022 damit begonnen, wieder andere scheinen damit noch gar nicht so wirklich angefangen zu haben. Ein Beispiel: Österreich. Da kamen im Dezember 98 Prozent des Gases aus Russland. Haben Sie für so etwas Verständnis?

Haluschtschenko: Da kann man nach Deutschland blicken oder nach Italien. Die Deutschen hatten auch eine große Abhängigkeit von russischem Gas. Aber in eineinhalb Jahren haben sie diese Abhängigkeit auf fast null zurückgefahren. Und der Rest ist eine Frage der Zeit. Die Repower-EU-Initiative, die bis 2027 implementiert werden und mit der der komplette Ausstieg aus russischem Gas vollzogen werden soll, ist absolut realistisch. Dieses Ziel ist erreichbar.

STANDARD: Auch für Länder wie Österreich?

Haluschtschenko: Natürlich.

STANDARD: Der Transitvertrag zwischen Naftogaz und Gazprom läuft mit Ende 2024 aus. Damit wird ab Ende des Jahres kein russisches Gas mehr durch die Ukraine nach Europa kommen. Ist da Raum für eine Verlängerung, eine Zwischenlösung, irgendeine Art der Überbrückung zum Beispiel durch Zwischenhändler? Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit gäbe es ja.

Haluschtschenko: Das sehe ich nicht. Ich sehe nicht, dass wir mit Russland irgendeine Art der Vereinbarung treffen können auf bilateraler oder trilateraler Basis. Das ist übrigens auch die Position der EU. Und unsere Position wiederum ist, mit der Position der EU übereinzustimmen.

STANDARD: Würden Sie sagen, dass Österreich mit seinen Gasbezügen Russlands Krieg finanziert?

Haluschtschenko: Ich würde natürlich sagen, dass wir jede Kooperation mit Russland in Sachen Energie beenden müssen, weil sie gefährlich ist. Vor allem wenn man sich abhängig macht. Russland kann die Lieferungen heute kappen – ohne Erklärung. Das ist auch oft passiert. Mit vielen Ländern. Der rechtliche Rahmen freilich gibt etwas vor. In diesem Fall, dass der Vertrag mit Jahresende ausläuft. Aber Russland hat bereits zuvor den Transit gedrosselt – ohne Erklärung. Russland ist kein verlässlicher Partner. Europa hat diesen Schock auf den Energiemärkten bereits 2022 und 2023 erlebt. Das war eine künstlich herbeigeführte Krise.

STANDARD: Wie meinen Sie das genau?

Haluschtschenko: Dass Russland die Preise manipuliert hat. Aber in der EU wurden viele Maßnahmen angenommen: die Kontrolle über die Lager, die gemeinsame Einkaufsplattform.

Russisches Gas ist eine zentrale Waffe Moskaus gegen Kiew (Fotomontage mit Pipeline und Rubel-Geldschein).
Russisches Gas ist eine zentrale Waffe Moskaus gegen Kiew (Fotomontage mit Pipeline und Rubel-Geldschein).
REUTERS/DADO RUVIC

STANDARD: Es gibt all diese Maßnahmen, es gibt die 440 Millionen Euro im EU-Fonds, es gibt den Willen zum Ausstieg ohne Zwischenhändler, es gibt die Anbindung der Ukraine an Westeuropa und die EU in Energiefragen – aber ist das in Summe genug?

Haluschtschenko: Freilich hätten wir gerne raschere Lösungen. Und das diskutieren wir auch. Wir wollen aber auch die Argumente unserer Partner und deren Meinungen hören. Letztlich liegt aber alles an den Sanktionen. Diese Sanktionen müssen effektiv sein. Wir wissen, dass Russland Wege findet, diese Sanktionen zu umgehen. Sanktionen die man umgehen kann, machen keinen Sinn. Wenn wir also über Sanktionspakete sprechen, dann ist die Kernfrage, die Umgehung nicht zu erlauben. Und wir wollen neue Sanktionen. Zum Beispiel was Kernbrennstoff angeht. Wir müssen sicher sein, dass die Sanktionen funktionieren, und sicherstellen, dass dieses Geld nicht nach Russland kommt. Wenn sie diesen Krieg nicht bezahlen können, dann ist genau das der Schlüssel. (Stefan Schocher, 6.3.2024)