Demirel weiß über den Fußball in Istanbul Bescheid.
Moritz Ettlinger, ballesterer

Fatih Demireli war Journalist und TV-Experte in Deutschland und der Türkei, ehe er 2022 zum Rekordmeister Galatasaray nach Istanbul wechselte. Dort kümmert er sich als Director of Research and Development um Personal, Strukturen und die Nachwuchsarbeit. Obwohl ein Spiel der U18 ansteht und Demirelis Smartwatch im Minutentakt aufleuchtet, nimmt er sich in einem Café in der Nähe der Fußballakademie eineinhalb Stunden Zeit für das Interview mit dem ballesterer.

ballesterer: Warum sind Sie Fan von Galatasaray?

Fatih Demireli: Das hat mit meinem Vater zu tun. Er ist ein sehr ruhiger Typ. Als ich noch klein war, ist er immer vor seinem Funkradio gesessen und hat sich in einer Art gefreut, die ich gar nicht von ihm gekannt habe. Er hat Galatasaray gehört. Mit acht oder neun war ich einmal im alten Ali-Sami-Yen-Stadion, das war Liebe auf den ersten Blick. Ich war vorher schon im Münchner Olympiastadion, das war kein Vergleich. Es war eine unfassbare Atmosphäre, meine ganze Familie ist total emotional geworden. Ich habe das Spiel gar nicht gesehen, weil ich nur links und rechts alles um mich herum beobachtet habe. Ich bin auch Bayern-Fan, aber in München sitze ich auf der Haupttribüne, in Istanbul würde ich in der Kurve stehen, wenn ich nicht für den Verein arbeiten würde.

Was macht Galatasaray besonders?

Ich finde beeindruckend, wie der Verein aus einer Schule entstanden ist. Und wie er es schafft, dieses Erbe aufrechtzuerhalten und gleichzeitig einen Blick für Weiterentwicklung zu haben. Galatasaray hat große internationale Ambitionen. Hier sind schon Trainer entlassen worden, die zwar die Süper Lig angeführt haben, aber in der Champions League ausgeschieden sind.

Fußball ist in der Türkei Lebensmittelpunkt für viele Menschen. Warum?

In alten Filmen sieht man oft, wie Kinder auf der Straße Fußball spielen. Das habe ich mit meinen Cousins auch immer gemacht, wenn wir im Sommer die Familie in der Türkei besucht haben. Das ist also ein kulturelles Ding. Es ist aber auch eine Ablenkung vom Alltag, der für ärmere Familien nicht immer einfach ist. Ich bekomme täglich Zuschriften aus der ganzen Türkei, in denen Eltern ihre Söhne anpreisen. Für sie ist der Fußball eine mögliche Rettung.

ballesterer #186 reist nach Istanbul und widmet sich den großen und kleinen Klubs, den Fans und der Atmosphäre der Stadt. Daneben gibt es ein ausführliches Interview mit Rapid-Trainer Robert Klauß, einen Nachruf auf den ehemaligen Ultra und Hertha-Präsidenten Kay Bernstein, Geschichten aus Nepal und der Cote d’Ivoire sowie einen Ausflug in die Kunstgeschichte. Einige Texte sind online hier https://ballesterer.at/issues/istanbul/ zu finden, die komplette Ausgabe ist im Zeitschriftenhandel und im ballesterer-Shop https://shop.ballesterer.at/ erhältlich.
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Woran lässt sich die Bedeutung des Fußballs noch erkennen?

Wenn der Staat in anderen Ländern Vereinen Schulden erlässt, würde es einen medialen Aufschrei geben. Hier ist so etwas auch schon einmal gefeiert worden. Es ist ja nicht einmal so, dass die Stadien brechend voll wären, aber alle reden über Fußball. Manche meiner Familienmitglieder rufen einander an, wenn Galatasaray Fenerbahce schlägt. Da geht es nur um diesen Moment des Triumphs, dabei kennen sie nicht einmal den Namen eines einzigen Spielers. Noch ein Beispiel: Beim Erdbeben vergangenes Jahr in Hatay sind Kinder aus den Trümmern geborgen worden und haben als Erstes "Icardi" oder "Galatasaray" gesagt. Es ist ein Wahnsinn, welche Kraft die Menschen bekommen haben, weil der Klub vor Ort war. Galatasaray ist ein Anker im Leben vieler Menschen.

Was gefällt Ihnen an Istanbul?

Istanbul besteht aus Gegensätzen: Da ist das Moderne, das du so teilweise nicht einmal in London oder Paris hast, es ist westlicher als der Westen. Und zwei Straßen weiter ist es fernöstlicher als im fernen Osten. In dieser Stadt bekommst du im Sekundentakt ein anderes Lebensgefühl. Du kannst im Wald fernab von anderen Menschen leben, du kannst brutale Partys feiern, du kannst im Meer schwimmen, du kannst dich im Verkehr mit irgendjemandem prügeln. Diese Stadt ist ein Abenteuer.

Trifft das auch auf den Fußball zu?

Definitiv. Istanbul ist oft chaotisch, so ist es auch im Fußball: Auf der einen Seite hast du ein unermessliches Potenzial, auf der anderen Menschen, die es nicht auf die Reihe bekommen. Nicht, weil sie es nicht können, sondern weil sie die Bedingungen nicht vorfinden.

Warum ist Istanbul das Fußballzentrum der Türkei?

Istanbul ist der Ort, an den viele Menschen kommen, die schwierigen Verhältnissen entfliehen wollen. Istanbul hat Arbeit, Istanbul hat Geld. Es gibt diesen Spruch: "Die Erde Istanbuls ist aus Gold." In Istanbul leben heute mehr Menschen aus Sivas als in Sivas, mehr aus Trabzon als in Trabzon. Istanbul ist das Zentrum für viele Lebensbereiche geworden, hier ist alles versammelt: Sport, Wirtschaft, Kunst, Kultur.

Im Mai 2000 hat Galatasaray den UEFA-Cup gewonnen. Welche Erinnerung haben Sie daran?

Es war der Wahnsinn. Wir sind mit der ganzen Familie vor dem Fernseher gesessen und haben danach auf der Leopoldstraße in München bis in die Morgenstunden gefeiert. Am nächsten Tag war ich im Galatasaray-Trikot in der Schule, das habe ich vorher nicht gemacht. Es hat alles verändert – auch das Selbstbewusstsein des türkischen Fußballs. Es gibt hier eine Art Minderwertigkeitskomplex, der dadurch aufgebrochen worden ist. Auch weil man diesen Erfolg aufgrund der Ausländerbeschränkungen vor allem mit türkischen Spielern geschafft hat. Mit diesem Gerüst ist das Nationalteam zwei Jahre später WM-Dritter geworden, viele Spieler sind zu internationalen Topklubs gewechselt. Der türkische Fußball hat an Bekanntheit und Beliebtheit gewonnen. Galatasaray hat daraus aber damals wenig gemacht. Heute würde das Merchandising durch die Decke gehen, damals hat es nicht einmal ein Siegershirt gegeben.

Warum ist es der einzige internationale Titel eines türkischen Vereins geblieben?

Der Verband und die Vereine haben lange Zeit keine nachhaltigen Strukturen geschaffen und keine tiefgründigen Maßnahmen für Nachwuchsarbeit getroffen. Stattdessen war es weiterhin erlaubt, sich massiv zu verschulden. Viele Traditionsvereine wie Bursaspor sind abgestürzt. Sie waren 2010 Meister und haben in der Champions League gespielt, heute sind sie in der dritten Liga und haben kaum Hoffnung auf Besserung.

Warum wirtschaften die Vereine nicht nachhaltiger?

Das liegt am Druck der Fans und der Vermessenheit vieler Funktionäre.

Auf Schalke gibt es auch einen hohen Druck der Fans.

Aber dort gibt es Lizenzauflagen, die die Vereine erfüllen müssen. Hier versucht der Verband, das jetzt umzusetzen. Erst seit drei, vier Jahren gibt es Ausgabenlimits. Ich weiß bei Galatasaray, dass wir sie einhalten. Einige Klubs haben nicht die Voraussetzungen, geben aber trotzdem den Europacup als Ziel aus. Dass die Kaderplanung dann nicht immer gut durchdacht ist, liegt auf der Hand.

Warum lernt man nicht daraus?

In Deutschland werden Vereine sanktioniert, wenn sie dem Vereinswohl schaden. Und die Macht der Mitglieder ist sehr groß, das finde ich schon gut. In der Türkei ist ihr Einfluss bei vielen Vereinen nicht so groß, viele Vorstände haben freie Hand und handeln sorgloser. Da fehlt jegliches Verständnis für nachhaltige Arbeit, auch weil sie kurzfristig denken. Die Vereine, die es anders machen, funktionieren: Sivasspor ist mit dem achten Platz zufrieden. Sie haben seit Jahren den gleichen Präsidenten, bezahlen die Spieler pünktlich und geben nur das aus, was sie haben.

Was muss sich in der Nachwuchsarbeit verändern?

Es gibt genug gute Fußballer, aber sie werden nicht ausreichend gefördert. Es gibt eine Ausländerbegrenzung, wonach immer mindestens drei türkische Spieler am Platz stehen müssen. Aber um welche drei Spieler geht es dabei? Die drei, die wir aus Deutschland geholt haben? Indem wir für Kerem Demirbay und Kaan Ayhan Geld ausgeben? Die sind nicht in der Türkei ausgebildet worden, also wird der Nachwuchs hier nicht besser. Die Vereine müssen zur Ausbildung verdonnert werden. Deutschland ist gerade U17-Weltmeister geworden. Wo war die Türkei? Als der VfL Bochum in die Bundesliga aufgestiegen ist, haben sie für das Nachwuchsleistungszentrum einen zweiten Koch eingestellt, einen Medienmitarbeiter und einen Psychologen. Das habe ich dem türkischen Verbandspräsidenten erzählt. Wir kratzen hier nur an der Oberfläche.

Hängt das mit den Verpflichtungen von Stars zusammen?

Sicherlich. Das kommt vom Druck der Fans und der Experten. Auch wenn sie die Kohle dazu nicht haben, beschweren sich viele, dass sie nicht so viel wie Galatasaray ausgeben. Manche versuchen es dann und kommen in den immer gleichen Teufelskreis. Sie holen sich einen Gönner, die Erwartungen werden nicht erfüllt, die Schulden steigen. Um hinauszukommen, holen sie sich den nächsten Gönner. Niemand sagt: "Stopp, das funktioniert nicht." Niemand opfert drei, vier Jahre und nimmt für die nachhaltige Entwicklung einen Abstieg in Kauf.

Wie finden Sie die Berichterstattung deutschsprachiger Medien über den türkischen Fußball?

Ich habe das Gefühl, dass teilweise von oben herab berichtet und mit zu vielen Klischees gearbeitet wird. Obwohl in den letzten Jahren wirklich wenig passiert ist, liest man oft von einem Gewaltproblem im türkischen Fußball. Auch das Thema mit den Altstars finde ich überholt, wir haben bei Galatasaray keine Altstars.

Wie unterscheiden sich die Fußballmedien?

Viele Journalisten in der Türkei sind vor allem Fans. Als Bayern-Reporter bei Spox hätte ich mir nie erlauben können, mit einer derartigen Vereinsbrille zu berichten. Ich merke das bei Pressekonferenzen, wie zuletzt nach dem Champions-League-Spiel gegen Bayern. Die Journalisten haben sich bedankt, dass Galatasaray den türkischen Fußball so gut vertreten hat. Das ist doch nicht ihre Aufgabe. Journalisten versuchen nach Niederlagen auch oft, die Fehler von Spielern und Trainer nicht anzusprechen. Es sind aber nicht alle so – und es kommen gute junge Journalisten nach. Sie sehen, wie es international läuft, weil sie internationale Medien konsumieren.

Halten türkische Fans im Europacup zusammen?

Das kann schon vorkommen. Ein Galatasaray-Fan wird keinen Autokorso starten, aber sich über den Erfolg von Fenerbahce freuen. Wir haben es auch nötig, einander zu unterstützen. Der Koeffizient in der Fünfjahreswertung ist schwach, deshalb hoffe ich, dass Fenerbahce in der Conference League so weit wie möglich kommt. Seitdem ich bei Galatasaray arbeite, sehe ich, dass die Zusammenarbeit der Großklubs sehr gut ist. Davon war ich positiv überrascht. Auf der Ebene der Fans ist die Rivalität zu spüren, aber intern helfen wir uns auch.

Wie wichtig ist die Rivalität für die Stimmung im Stadion?

Sehr wichtig. Es schmerzt uns kein bisschen, wenn 2.500 Fenerbahce-Fans in unserem Stadion sind. Die Schönheit der Derbys liegt auch darin, dass man zwei Fanlager erleben darf. Umso wichtiger war es, dass sich die führenden Ultragruppen von Besiktas, Fenerbahce und Galatasaray gemeinsam beim Verband gegen ein Verbot von Auswärtsfans eingesetzt haben. (Interview: Alexander Danzinger, Moritz Ettlinger & Tobias Fries, 6.3.2024)