Ein Lift im Landesgericht Wien ist mit rot-weißem Absperrband verklebt, davor teilt eine Tafel mit, dass der Aufzug derzeit außer Betrieb sei.
Technische Probleme der Infrastruktur sorgen seit Freitag im Landesgericht für Strafsachen Wien dafür, dass Parteien recht atemlos zu Verhandlungen im vierten Stock erscheinen.
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Wien – Am Beginn jedes Strafverfahrens werden die persönlichen Daten des Angeklagten überprüft, um sicherzustellen, dass auch die richtige Person vor dem Richterinnentisch sitzt. Manchmal bekommt man dabei schon einen ersten Eindruck von den Beschuldigten, wie Richterin Magdalena Klestil-Krausam auch im Prozess um schwere Körperverletzung und gefährliche Drohung gegen Herrn R. feststellen kann. "Haben Sie Vorstrafen?", fragt sie den 33-Jährigen nämlich. "Nein", lautet die Antwort. – "Nein?" – "Doch, einmal war etwas", dämmert es dem Angeklagten dann doch wieder. "Ich habe hier zwei Vorstrafen stehen!", sieht Klestil-Krausam im Akt. "Beide Male geht es um die Begehung einer Straftat im Zustand voller Berauschung. Das erste Mal sind Sie im Juli 2017 zu drei Monaten bedingt wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt worden, im November 2018 waren es dann acht Monate bedingt und eine unbedingte Geldstrafe wegen schwerer Sachbeschädigung und wieder eines Widerstands!", hält sie R. vor.

Diesmal sitzt der Arbeitslose hier, da er vom 12. Juni bis zum 4. September eine Frau mehrmals am Körper verletzt und sie bedroht haben soll. "In welchem Verhältnis standen Sie zu der Frau?", will die Richterin zunächst wissen. "Normalerweise war gar nichts, wir waren nur Freunde", antwortet der Bolivianer. Möglicherweise hat der Begriff in Südamerika eine deutlich andere Bedeutung. Wie sich herausstellt, hatte er nämlich mit der Frau, die er im Job kennengelernt hatte, durchaus eine sexuelle Beziehung und schlief auch immer wieder in ihrer Wohnung mit ihr in einem Bett. "Es war eine offene Beziehung, ohne gegenseitige Verpflichtungen", nennt die Frau als Zeugin die Vereinbarung.

Angeklagter spricht von Eifersucht der Frau

Der Angeklagte dagegen sagt, die Frau sei eifersüchtig gewesen und habe ihm am Morgen des 12. Juni eine Szene gemacht. "Sie hat Sachen von mir auf den Boden geschmissen!", echauffiert er sich. Er habe sie an den Armen gepackt und festgehalten, um sie zu beruhigen. Ziemlich fest, gibt er zu, daher habe sie dabei auch Hämatome erlitten. Woher Druckspuren und Kratzer an ihrem Rücken und im Halsbereich kommen, die wenige Stunden danach fotografiert wurden, kann er sich dagegen nicht erklären.

Die Frau schon: Sie schildert nämlich, R. habe sie bei dem Streit gewürgt, auf den Boden geschmissen, an den Haaren durch die Wohnung gezogen und sie so heftig geschüttelt, dass sie mehrmals mit dem Hinterkopf auf die Wand prallte. Vorwürfe, die der Angeklagte allesamt bestreitet. Auch am 12. August sei wieder ihre Eifersucht Anlass für einen Streit gewesen, behauptet er. Er habe nichts gemacht, die Frau dagegen ein Bügeleisen in seine Richtung geworden und versucht, ihn zu schlagen. "Bei der Polizei haben Sie noch gesagt, sie hätte mit den Fäusten auf Sie eingeschlagen, jetzt sagen Sie, sie habe es nur versucht?", weist Klestil-Krausam auf einen Widerspruch hin. "Ich kann mich nicht mehr genau erinnern", entschuldigt der Angeklagte sich.

Seltsame Erklärung für schwere Verletzung 

Ganz genau kann er sich aber angeblich daran erinnern, dass die Frau sich an diesem Tag ihren Finger gebrochen hat. Als sie versucht habe, ihm seine Hose herunterzureißen. Sie sei dabei an einer Hosentasche hängengeblieben. Warum die Zeugin sagt, dass er ihr damals die Finger der linken Hand umgebogen habe und sie sich den rechten Ringfinger erst beim nächsten Zwischenfall am 31. August gebrochen hat, als sie ihr Handy und ihre Schlüssel aus der Hosentasche des Angeklagten holen wollte und er ihre Hand kraftvoll umbog und wegschleuderte? R. hat keine Erklärung dafür. Nur eine Überzeugung: "Sie will mich einfach ruinieren!" Dass die Frau im Spital aus Angst vor ihm gelogen hat und die Fingerverletzungen gegenüber dem ärztlichen Personal einmal auf einen Arbeitsunfall und einmal auf einen Yoga-Unfall schob, quittiert der Angeklagte mit verdrehten Augen, wie die Richterin im Protokoll festhalten lässt.

Die Einvernahme der Zeugin findet auf ihren Wunsch in Abwesenheit des Angeklagten statt. Sie hält ihre Version aufrecht, kämpft manchmal mit den Tränen und erzählt eine Geschichte, die man leider viel zu oft in Gerichtssälen hört. Auf die Frage, warum sie in den Krankenhäusern nicht die Wahrheit gesagt habe, antwortet die Südamerikanerin: "Ich wollte keine Anzeige erstatten." – "Warum nicht?" – "Weil er mir danach gesagt hat, er werde sich ändern. Er sei in Wahrheit nicht so, und er werde sich Hilfe holen, und er habe mich sehr gern." – "Haben Sie ihn auch gern gehabt?" – "Ich wollte ihm helfen."

Tochter bestand auf Anzeige

Die Hausärztin, zu der sie nach dem ersten Vorfall gegangen ist, riet ihr zu einer Anzeige und gab ihr Kontaktdaten von Hilfseinrichtungen, auch ihre Freundinnen forderten sie auf, zur Polizei zu gehen. Sie machte das nicht, sondern glaubte R. immer wieder seine Entschuldigungen. "Haben sie ihn noch geliebt?", fragt die Richterin. "Ja. ich wollte ihm die Gelegenheit geben, sich zu ändern", erklärt die Zeugin. Die auch die Schuld bei sich sucht, etwa bei dem Vorfall vom 12. August. Der Angeklagte sei betrunken nach Hause gekommen und aggressiv gewesen. "Es war wahrscheinlich ein Fehler, dass ich gesagt habe, er soll aufpassen, nicht so zu werden wie sein Vater", entschuldigt sie sich. Erst nach dem Auszug des Angeklagten Anfang September habe sie im Spital am 9. September erstmals den wahren Grund des Fingerbruchs verraten. "Aber nicht von mir aus. Meine Tochter hat darauf bestanden", erinnert die Zeugin sich. Am 12. September erfolgte schließlich die Anzeige.

"Können Sie sich diese spontanen Wutausbrüche des Angeklagten erklären?", will der medizinische Sachverständige Nikolaus Klupp von der Zeugin wissen. "Sind da Alkohol oder anderen Drogen im Spiel?" Die Frau kann kein Muster erkennen. "Er ist einfach sehr aggressiv", schildert sie. R. habe sich aber auch immer als Opfer dargestellt und gesagt, er habe wegen einer erkrankten Verwandten Stress. In seinem Gutachten bestätigt Klupp dann, dass sich die dokumentierten Verletzungen sehr gut mit den Schilderungen der Zeugin in Einklang bringen lassen.

Klestil-Krausam glaubt der Zeugin ebenso mehr als dem Angeklagten und verurteilt R. rechtskräftig zu zwei Jahren Haft, acht Monate davon sind unbedingt. "Die Zeugin war absolut glaubwürdig, ich habe selten so eine authentische Aussage erlebt", begründet die Richterin ihre Entscheidung. "Die hat Sie geliebt und ist leider Gottes nicht die erste Frau, die keine Anzeige erstattet", glaubt Klestil-Krausam nicht an eine Racheaktion. Da weder die bedingten Haftstrafen noch die unbedingte Geldstrafe etwas an seinem Verhalten geändert haben, sei nun nur noch eine teilbedingte Gefängnisstrafe als Konsequenz möglich. "Ich hoffe sehr stark, dass Sie es diesmal lernen!", formuliert die Richterin ihren Wunsch. (Michael Möseneder, 6.3.2024)