Monatelang hatte Russland vergangenes Jahr Zeit, seine Invasionstruppen entlang der sogenannten Surowikin-Linie im Osten der Ukraine einzugraben. Monate, in denen der Westen seinem Versprechen nur allzu zögerlich nachkam, dem angegriffenen Land jene Waffen zu schicken, die es für seine Gegenoffensive erbeten hatte. Monate, die sich für die Ukraine als verheerend erweisen sollten.

Während in den Staatskanzleien zwischen Washington und Berlin gestritten, beschlossen, sortiert und schließlich viel zu spät geliefert wurde, hatten sich Moskaus Truppen nämlich längst in tiefen, kilometerlangen Schützengräben postiert, zwischen Drachenzähnen verschanzt und hinter Minenfeldern verbarrikadiert, die zusammengerechnet eine Fläche mehr als doppelt so groß wie Österreich unpassierbar machen – auch für die ohnehin spärlich gelieferten westlichen Panzer. An eine erfolgreiche Offensive, in der die Ukraine wie erhofft besetztes Land zurückerobert, war nicht mehr zu denken.

Ukraine muss sich verschanzen

Heute, 748 Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs und ein halbes Jahr nach dem Scheitern der ukrainischen Gegenoffensive, muss die Ukraine sogar fürchten, von Russlands Truppen doch noch überrollt zu werden. Einerseits, weil in den ukrainischen Arsenalen längst Mangel herrscht, etwa bei der so wichtigen Artilleriemunition. Und andererseits, weil die Ukraine erst spät begonnen hat, ihrerseits solide Verteidigungsanlagen zu errichten, die den russischen Vormarsch stoppen könnten. So hochgerüstet die seit 2014 von Kiew ausgebauten Stellungen etwa rund um das im Februar von russischen Truppen nach langem, verlustreichem Kampf überrannte Awdijiwka waren, so schwach sind sie über weite Strecken dahinter ausstaffiert. Für die Ukraine, die seit dem Ende der Gegenoffensive in den Defensivmodus gewechselt ist, wird dies zunehmend zu einem Problem.

Drohnen spielen eine enorm wichtige Rolle im Ukrainekrieg – auf beiden Seiten.
AFP/GENYA SAVILOV

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj muss deshalb genau darauf achten, die Balance zwischen Beruhigung und Hilferuf zu wahren: Am Sonntag berichtete er im französischen TV von "mehr als 1.000 Kilometern" Befestigungsanlagen, die seine Armee gerade errichte – und bat zugleich einmal mehr um neue Waffen und Munition. Freilich nicht ohne Grund: Gerade Letztere müssen die ukrainischen Verteidiger längst rationieren.

Die verzweifelte Lage hat sich indes bis in den Vatikan durchgesprochen. Papst Franziskus höchstpersönlich rief Kiew am Sonntag faktisch zur Kapitulation auf – bevor es noch schlimmer komme, wie der Pontifex fürchtet. Die überfallene Ukraine reagierte postwendend – und empört. Man plane keineswegs, vor Russland in die Knie zu gehen, wer Frieden wolle, müsse dies zuerst dem Aggressor sagen. Zu verhandeln, wie es der Papst verlangte, gebe es derzeit mit Moskau nichts. Auch wenn der Vatikan am Dienstag schließlich zurückruderte, passt derlei Fatalismus so gar nicht in Kiews Konzept.

Russland auf dem Vormarsch

Denn allen Durchhalteparolen zum Trotz sieht es derzeit so aus, als gehe der Ukraine langsam, aber sicher die Luft aus. DER STANDARD hat Markus Reisner von der Theresianischen Militärakademie gefragt, welche Optionen der Ukraine nach mehr als zwei Jahren russischen Angriffskriegs noch bleiben und wie es zurzeit um den russischen Vormarsch steht.

"In ihrer zweiten Winteroffensive nehmen die Russen Verluste in Kauf, die noch höher sind als jene in den vergangenen Monaten", sagt der Analyst. "Die russische Armee greift derzeit einerseits im Raum Kupjansk im Norden an, wo man bis an den Fluss Oskil vorstoßen will. Westlich von Bachmut drängt sie in Richtung der Ortschaft Tschassiw Jar. Und von Awdijiwka aus versucht man westwärts vorzudringen." Russland rechne sich an diesen drei Stellen deshalb Chancen auf einen operativen Durchbruch aus, weil die ukrainischen Befestigungen dort noch nicht stark genug ausgebaut sind, vermutet Reisner. Um dies zu verhindern, hat Kiew Eliteeinheiten in die Gegend von Awdijiwka verlegt. Ob sie die schiere Masse, die Russland dort in die Schlacht schickt, nachhaltig stoppen können, ist freilich unklar.

Schlammperiode vor der Tür

Als zeitliche Frist macht Reisner einerseits die zweite Schlammperiode "Rasputiza" aus, die in wenigen Wochen weite Teile der Front schwer passierbar machen wird, andererseits die russische Präsidentenwahl Mitte März. Machthaber Wladimir Putin wolle auf Biegen und Brechen Ergebnisse erzwingen, Verluste spielten keine Rolle, tote Soldaten schon gar nicht.

Mit Ästen und Zweigen tarnen diese ukrainische Soldaten im Raum Donezk ihre Haubitze.
REUTERS/Oleksandr Ratushniak

"Wir sehen, dass die russische Armee in der ersten Angriffswelle oft schlecht ausgebildete Soldaten in den Kampf schickt, die vor allem dazu dienen, das ukrainische Feuer zu binden und Abwehrstellungen erkennbar zu machen. Danach kommt massiv die russische Artillerie zum Einsatz, erst dann versucht eine zweite Welle, über die ukrainischen Stellungen hinweg vorzustoßen." So langsam Russland zurzeit auch vorankommt, so hoch der Blutzoll auch sein dürfte: Ein Dammbruch, der die ukrainische Front sprengt, sei keineswegs auszuschließen.

Fatale US-Blockade

Die Zeit spielt dem russischen Machthaber auch in puncto Munition in die Hände: Während Russlands auf Kriegswirtschaft getrimmte Industrie heuer bis zu drei Millionen Stück Artilleriegranaten produzieren und die Armee zudem auf Lieferungen aus Nordkorea zurückgreifen kann, warten die ukrainischen Soldaten an der Front verzweifelt auf Nachschub aus dem Westen. Seit Monaten blockieren die US-Republikaner auf Geheiß Donald Trumps neue Waffenlieferungen. Und auch Europa lässt die Ukraine zunehmend im Stich. Gerade einmal ein Drittel der zugesagten Million Stück Munition ist bis dato geliefert worden. 100.000 Geschosse verbraucht die ukrainische Armee aktuell im Monat.

Auch auf der illegal annektierten Krim ruft Russlands Machthaber Wladimir Putin an die Urnen.
AP

Die tschechische Initiative, aus den Arsenalen außereuropäischer Armeen bis zu 800.000 Artilleriegranaten für die Ukraine zu beschaffen, könnte kurzfristig Abhilfe schaffen, bis dann womöglich doch noch neue US-Lieferungen kommen – wenn sie denn kommen.

Wie es nach der US-Präsidentenwahl im Herbst weitergeht, weiß dieser Tage ohnehin niemand so genau. Donald Trump, dem gute Chancen auf eine zweite Amtszeit zugeschrieben werden, werde "keinen Cent" mehr für die Ukraine ausgeben, ließ der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die Welt nach einem Besuch bei Trump in Florida wissen. Am Dienstag hieß es aus Washington, die US-Regierung bereite ein neues, 300 Millionen Dollar schweres Hilfspaket für die Ukraine vor.

Europäer in der Pflicht

Reisner sieht zuvor aber auch die Europäer in der Pflicht: "Die europäische Rüstungsindustrie könnte durchaus noch mehr produzieren, bisher fehlen ihr aber dazu die entsprechenden Aufträge. Die Staaten müssten dafür ihre Budgets angreifen und Mittel umwidmen, die dann an anderer Stelle fehlen."

Welche Optionen bleiben dem angegriffenen Land jetzt also noch? Einerseits könnte die Ukraine versuchen, in der Luft oder auf See weitere spektakuläre Erfolge zu erzielen, etwa mit weitreichenden Angriffen nach Russland hinein oder, wie zuletzt, auf dem Schwarzen Meer. Mit neuen, großen Offensiven an Land rechnet Reisner heuer nicht, schon wegen der mangelnden Ausrüstung. "Das wahrscheinlichste Szenario ist, dass die Ukraine versucht, mit allen Mitteln die Front zu halten. Das dritte Szenario, aus meiner Sicht das schlimmste, wäre, wenn die Ukraine weiter Land aufgeben muss, um sich hinter natürlichen Barrieren zu konsolidieren. Das können etwa Flüsse sein, im schlimmsten Fall der Dnjepr", sagt Reisner. Kriegsherr Putin wäre seinem Ziel, die Ukraine zu zerstören, dann einen gewaltigen Schritt näher. (Florian Niederndorfer, 13.3.2024)