Anlässlich seines Wien-Besuchs konnte DER STANDARD mit dem im Exil lebenden und arbeitenden Chef der Exekutivkörperschaft der Krimtataren sprechen. Refat Tschubarow warnt vor Wladimir Putin: Mit dem russischen Präsidenten könne und dürfe man nicht verhandeln.

STANDARD: Vor zehn Jahren hat dieser Krieg auf der Krim begonnen. Aus dem Putsch russischer Militäreinheiten ist ein blutiger Krieg geworden. Haben Sie denn die Hoffnung, bald zurückkehren zu können?

Tschubarow: Wir – also ich spreche von wir, weil ich von den Krimtataren spreche – warten auf die Befreiung und auf die Rückkehr. Das mag vielleicht paradox klingen – aber Russlands Invasion hat eine Chance eröffnet, dass die Krim wieder ukrainisch wird.

Refat Tschubarow
Refat Tschubarow: "Außenpolitiker glauben leider sehr oft, dass man mit Russland verhandeln kann."
Stefan Schocher

STANDARD: Allerdings gab es erst diese Woche Aktionen russischer Sicherheitsdienste gegen krimtatarische Aktivisten. Was können Sie über diese Aktionen sagen?

Tschubarow: Es gab Razzien bei rund zehn krimtatarischen Familien, dabei wurden zehn Männer vom FSB festgenommen – unter dem Vorwurf terroristischer Aktivitäten. Es gibt Zeugen der Aktionen: Da haben Maskierte die Türen eingetreten und Kinder mit Waffen bedroht. Es geht ihnen darum, Angst zu verbreiten – vor allem unter Krimtataren. Es gibt heute 190 politische Gefangene auf der Krim. 125 davon sind Krimtataren.

STANDARD: Russland hat 2014 die Wahrung von Minderheitenrechten versprochen. Dann wurde der Medschlis, die Exekutivkörperschaft der Krimtataren, als terroristische Organisation eingestuft. Sie selbst wurden von einem russischen Gericht zu sechs Jahren Lagerhaft verurteilt. Kulturelle Aktivitäten werden unterbunden. Was ist übrig von der Selbstverwaltung vor Ort?

Tschubarow: Grundsätzlich sind alle unsere Aktivitäten in die Festland-Ukraine und in die Diaspora verbannt. Wir waren 33 Personen im Medschlis. Zehn davon sind in der Ukraine, alle anderen auf der Krim. Und dort ist das keine Aktivität für jedermann. Fünf dieser Personen haben den Exekutivrat verlassen, eine ist gestorben. Der Vizevorsitzende Nariman Dzhelal wurde zu 17 Jahren Haft verurteilt. Wenn man als terroristische Organisation angesehen wird, wird die Arbeit unmöglich gemacht.

STANDARD: Die Krimtataren pflegen gute Beziehungen zur Türkei, sie bringt sich als Vermittlerin ins Spiel. Birgt das die Gefahr, unter die Räder zu kommen?

Tschubarow: Das ist ein Thema. Es ist nicht möglich, an irgendeine Art von Frieden zu denken und für diesen Frieden mit der Krim und den Krimtataren zu bezahlen. Irpin, Butscha, Hostomel – alle diese Orte haben der Welt verdeutlicht, dass es unmöglich ist, zum Beispiel die Krim herzugeben und Frieden zu haben. Die Befreiung der Krim wird sehr hart – sie ist aber der einzige Weg. Wir sind offen für die Türkei, und wir sind dankbar für ihre Bemühungen, wir verstehen auch ihre Ideen. Aber wir bitten sie auch, diese bis zum Ende durchzudenken.

STANDARD: Wenn Sie solche Vorschläge hören wie jenen des türkischen Außenministers Hakan Fidan, der einen Waffenstillstand ohne Klärung der territorialen Fragen zur Debatte gestellt hat: Was sagen Sie dazu?

Tschubarow: Wir haben einander gerade erst getroffen. Diese Idee hat er leider erst nach unserer Pressekonferenz geäußert. Der Vorschlag hört sich ja fürs Erste gut an: Ende der Kämpfe, Wahrung der Souveränität, Lösung der strittigen Fragen später. Aber es wäre besser, Russland nach einem Waffenstillstand und einem Rückzug der Armee zu fragen, weil es sehr viele offene Fragen gibt: die der Kriegsverbrechen und der Kriegsverbrecher, die der Reparationen. Solche Vorschläge spielen Russland in die Hände.

STANDARD: Und wären eventuelle Zusagen Moskaus Ihrer Ansicht nach denn glaubhaft?

Tschubarow: Außenpolitiker glauben leider sehr oft, dass man mit Russland verhandeln kann. Aber wenn sie auf die Krim blicken und sehen würden, wie Russland dort die Ukraine und die Krimtataren dämonisiert, und man alle die Versuche sieht, diese Identitäten zu eliminieren – dann glaube ich, dass sie ihre Meinung ändern würden. Wie kann man mit Russland reden, wenn Wladimir Putin sagt, dass es die Ukraine nicht gibt? Dass die Ukraine eine künstliche Nation sei? Unsere ausländischen Partner müssen sehr logisch handeln. Entscheidungen müssen sich an internationalem Recht orientieren – nicht an Angst.

STANDARD: Dmitri Medwedew – Ex-Präsident, Ex-Premier und Vizechef des Sicherheitsrats der Russischen Föderation – hat eben erst wieder bewiesen, dass Russland nicht viel auf internationales Recht gibt. Wenn internationales Recht aber ausgehebelt ist, wie kann es weitergehen?

Tschubarow: Wenn wir kein internationales Recht haben, dann haben wir nur das Recht der Macht und nicht mehr die Macht des Rechts. Es braucht eine Reform, eine Transformation der internationalen Mechanismen. Das Fundament dieser Mechanismen muss Moral sein. Ein Beispiel: Was ist 2014 in der OSZE passiert? Am 27. Februar hat Russland die Aggressionen auf der Krim gestartet. Und die OSZE – also die Organisation, die genau eine solche Situation verhindern sollte – hat Ende Juni damit begonnen, das Thema zu diskutieren. Das Ergebnis war eine letztlich gute Resolution: Beschlossen wurde, dass die Okkupation gegen alle Prinzipien der Schlussakte von Helsinki verstößt. Und zwei Monate danach: Da haben alle möglichen westlichen Staatschefs Putin in der Normandie umarmt und abgeküsst.

STANDARD: Mechanismen sind träge, Reformen brauchen Zeit. Eine bedrängte Minderheit wie die Krimtataren hat aber nicht ewig Zeit. Wie viel Zeit haben die Krimtataren?

Tschubarow: Ich würde gerne sagen, dass wir Zeit haben. Aber ich weiß nicht, was morgen passiert und welche Aktionen Russland setzen wird. (Stefan Schocher, 7.3.2024)