Es ist viel Zeit vergangen, seit die Bewohner der Stadt Charkiw zum ersten Mal Zuflucht vor den russischen Angreifern in den U-Bahn-Stationen suchten. Schätzungen zufolge sollen zu Beginn des Angriffskriegs rund 160.000 Menschen in den bombensicheren Stationen untergekommen sein. Mit Kindern und Haustieren, ausgerüstet mit Schlafsäcken, Campingstühlen und Zelten lebten viele hier wochen-, manche sogar monatelang. Das war im ersten Jahr des großen russischen Angriffskriegs.

Unterricht in einer von fünf
Unterricht in einer von fünf "U-Bahn-Schulen" in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine.
Helena Lea Manhartsberger

Trotz der kontinuierlichen Luftangriffe und des täglichen Sirenenheulens ist auch in Charkiw ein Hauch von Normalität eingekehrt. Während die Straßen vor zwei Jahren leer und viele Restaurants geschlossen waren, herrscht in der zweitgrößten Stadt des Landes wieder hektische Betriebsamkeit. Doch die U-Bahn-Stationen gelten noch immer als sicherster Ort. Deshalb wurden in insgesamt fünf Stationen im vergangenen September Schulen eröffnet – für mittlerweile rund 2.200 Kinder.

Knapp ein Viertel davon kommt seither in eine Station im Schewtschenkiwskij-Bezirk. An der von einem Sicherheitsbeamten bewachten Eingangstür hängt eine große ukrainische Flagge. Dahinter erstreckt sich ein Korridor, der einst als Durchgang für die Passanten diente. Die Kinder sitzen in provisorisch eingerichteten Räumen. Auf den Schulbänken vor ihnen liegen Übungshefte und Griffelschachteln, auf dem Boden daneben die Schultaschen. An den Wänden hängen selbstgemalte Bilder. Ukrainische Sprache, Mathematik, Geschichte und Biologie werden hier unterrichtet, während weiter unten dumpf die U-Bahn Schwung aufnimmt und neben den Rolltreppen Armee-Rekrutierungsplakate hängen.

Kontakt zu anderen Kindern

"Zunächst herrschte in einem Teil der Bevölkerung ein großer Mangel an Vertrauen dahingehend, ob es überhaupt sinnvoll sei, solche Schulen einzurichten", sagt Bezirksleiterin Julia Bashkirowa. Die Idee für die Schulen kam von Bürgermeister Ihor Terechow. "Es gab ja bis dahin keine Erfahrung mit solchen Bildungseinrichtungen", so Bashkirowa. Die Kinder lernen nun in zwei Schichten, so das Konzept. Die Vorschüler und Kleinen am Vormittag, die Mittelstufe am Nachmittag. An drei Tagen in der Woche findet Präsenzunterricht statt, an den restlichen beiden Fernunterricht.

Jede Schulklasse wird von einer Lehrerin, einer Tutorin und einer Psychologin betreut.
Jede Schulklasse wird von einer Lehrerin, einer Tutorin und einer Psychologin betreut.
Helena Lea Manhartsberger

Zusätzlich zur Lehrperson gibt es in jedem Klassenzimmer eine Tutorin und eine Psychologin, sagt Bashkirowa. "Viele Kinder sind verängstigt, das sind Reaktionen auf die Explosionen und Raketenangriffe." Bei manchen habe der Krieg dazu geführt, dass sie sich zurückziehen würden. "Die Aufgabe unserer Metroschule ist es, die Kinder zu sozialisieren. Sie sollen in einem Team lernen und sich in der Gruppe zurechtfinden."

Für ihre Enkelin sei der Kontakt zu anderen Kindern derzeit das Wichtigste, sagt Pensionistin Nadeschda. An ihrer Hand hält sie die bald fünfjährige Anastasia, die sie wie jede Woche zum Unterricht begleitet. "Zum Glück gibt es solche Schulen. Die Kinder können nicht immer nur online lernen. Sie brauchen den Kontakt zu anderen, das ist wichtig für die Entwicklung", sagt Nadeschda. Swetlana, die an diesem Tag ihren zehnjährigen Sohn Pawel in die U-Bahn-Station bringt, erklärt, dass ihr die Schule ein Gefühl von Sicherheit gebe. "Das hier ist ein sicherer Ort, besser als die normalen Schulen. In der derzeitigen Situation ist das zu gefährlich."

Erste unterirdische Schule geplant

Infolge der russischen Angriffe wurden in der Ukraine seit Kriegsbeginn mehr als 200 Schulen zerstört und weitere 1.600 beschädigt, sagte der stellvertretende Minister für Bildung und Wissenschaft, Andriy Stashkiv, vor kurzem. Aufgrund der Sicherheitslage lernen etwa 900.000 Schüler im ganzen Land online. Auch in Charkiw, wo es derzeit insgesamt rund 110.000 Schüler gibt. Die Nachfrage nach Schulplätzen in den Metrostationen sei deshalb groß, erklärt Bashkirowa. Denn die Stadt befindet sich nur 30 Kilometer Luftlinie von der russischen Grenze entfernt.

Kinder werden von ihren Müttern oder Omas zur Schule gebracht.
"Das hier ist ein sicherer Ort, besser als die normalen Schulen. In der derzeitigen Situation ist das zu gefährlich."
Helena Lea Manhartsberger

Noch im März soll deshalb eine gänzlich unterirdische Schule eröffnen. Der Zugang zu Bildungseinrichtungen gehört derzeit zu den Kernaufgaben der Stadtregierung, sagt Jewhen Iwanow, stellvertretender Leiter der Militärverwaltung des Gebiets Charkiw. "Ohne Bildung können wir die Familien nicht hier halten. Denn dann ziehen Familien mit Kindern in andere Regionen, wo die Kinder zur Schule gehen können."

Mittlerweile leben im Oblast Charkiw wieder fast so viele Menschen wie vor Kriegsbeginn, so Iwanow. Doch eine halbe Million seien Binnenvertriebene aus anderen Regionen. "Wir müssen jetzt die Voraussetzungen dafür schaffen, dass unsere Kinder und Menschen heute schon in Charkiw leben und lernen können. Wir wissen nicht, wie lange der Krieg dauern wird, aber wir müssen jetzt handeln und nicht auf bessere Zeiten warten." (Daniela Prugger aus Charkiw, 9.3.2024)