US-Präsident Joe Biden hat am Donnerstag in seiner Rede zur Lage der Nation ("State of the Union") vor dem Kongress Israel davor gewarnt, die humanitäre Hilfe für die Menschen im Gazastreifen als Druckmittel zu nutzen. "Humanitäre Hilfe darf keine zweitrangige Überlegung oder ein Druckmittel sein", sagte Biden. Der 81-Jährige wiederholte die Forderung nach einer sofortigen sechswöchigen Waffenruhe. Wladimir Putin will er nach Russlands Überfall auf die Ukraine weiter die Stirn bieten.

Joe Biden hielt seine Rede zur Lage der Nation. Seine Vizepräsidentin Kamala Harris spendete Standing Ovations. Mike Johnson, dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, scheint es weniger gefallen zu haben.
EPA/MICHAEL REYNOLDS

Bei seiner vielerwarteten Rede prangerte Biden die dramatische humanitäre Lage im Gazastreifen an, versprach den Menschen dort weitere Hilfe und rief Israels Führung zu einem besseren Schutz von Zivilisten auf. "Mehr als 30.000 Palästinenser wurden getötet, von denen die meisten nicht der Hamas angehören", behauptete Biden und bezog sich damit offenbar auf die von der islamistischen Terrororganisation Hamas selbst verbreiteten Zahlen. Kinder seien zu Waisen geworden, Menschen hätten ihre Häuser verloren und seien vertrieben worden.

Forderungen an Israel

Eindringlich wandte sich Biden an die israelische Führung, ihren Beitrag zu leisten zur humanitären Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung: "Israel muss mehr Hilfslieferungen nach Gaza zulassen und sicherstellen, dass die humanitären Helfer nicht ins Kreuzfeuer geraten", mahnte der Demokrat. "Humanitäre Hilfe darf nicht zweitrangig sein oder als Verhandlungsmasse dienen. Der Schutz und die Rettung unschuldiger Menschen müssen Vorrang haben."

Bidens Regierung hatte vor dessen Auftritt angekündigt, das US-Militär wolle gemeinsam mit internationalen Partnern einen temporären Hafen an der Küste des Gazastreifens einrichten. So solle die notleidende Zivilbevölkerung zusätzliche Hilfe auf dem Seeweg bekommen. Die Umsetzung werde einige Wochen dauern. Biden betonte, für das Vorhaben würden keine US-Soldaten vor Ort gebraucht. Die USA drängen Israel schon länger dazu, den Schutz der Zivilbevölkerung zu verstärken und mehr Hilfe für die Bevölkerung in Gaza zu ermöglichen.

Trumps Aussagen "gefährlich und inakzeptabel"

Mit Blick auf den Ukrainekrieg forderte Biden den Kongress erneut auf, weitere US-Hilfen für das von Russland angegriffene Land freizugeben. "Meine Botschaft an Präsident Putin, den ich seit langem kenne, ist einfach: Wir werden nicht weglaufen", sagte Biden an den Kreml-Chef gerichtet. "Wenn irgendjemand in diesem Raum meint, Putin würde nach der Ukraine haltmachen, dann ist das falsch. Ich versichere Ihnen, das wird er nicht."

Die Ukraine könne Putin aufhalten. "Wenn wir der Ukraine zur Seite stehen und die Waffen liefern." Die Ukraine bitte nicht um US-Soldaten, und er werde auch keine schicken, betonte der US-Präsident. Die Republikaner wollten, dass sich die USA von ihrer Führungsrolle in der Welt verabschieden.

Biden verurteilte auch Aussagen seines Vorgängers Donald Trump zum Verteidigungsbündnis Nato. Diese seien "gefährlich und inakzeptabel", warnte er. Der 77-jährige Trump hatte jüngst bei einem Wahlkampfauftritt deutlich gemacht, dass er Nato-Bündnispartnern mit geringen Verteidigungsausgaben im Fall eines russischen Angriffs keine amerikanische Unterstützung gewähren würde.

Blockade

Die USA galten in den vergangenen zwei Jahren seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine als wichtigster Verbündeter Kiews. Die US-Regierung lieferte in gewaltigem Umfang Waffen und Munition an die Ukraine. Seit geraumer Zeit gibt es jedoch keinen Nachschub mehr aus den USA. Hintergrund ist eine innenpolitische Blockade im US-Kongress, wo Republikaner weitere Hilfen für Kiew bisher verweigern. Ein neues Hilfspaket, das rund 60 Milliarden US-Dollar für die Ukraine vorsieht, hat zwar den Senat passiert. Doch nun steckt es in der zweiten Kammer, dem Repräsentantenhaus, fest.

Dauerthema Migration

Innenpolitisch will sich Biden beim im US-Wahlkampf wichtigen Thema Migration nicht an der Politik seines Vorgängers orientieren. "Ich werde keine Familien trennen", sagte er. Er werde die Einreise von Menschen aufgrund ihres Glaubens nicht verbieten. Trump hatte nur eine Woche nach seinem Amtsantritt Einreiseverbote für Menschen aus mehreren überwiegend muslimisch geprägten Ländern verhängt. Der Republikaner hatte außerdem illegal in die USA gelangte Familien für die gesamte Dauer ihres Asyl- oder Einwanderungsverfahrens in Gewahrsam nehmen lassen.

Mit Blick auf eine aktuelle Äußerung Trumps sagte Biden: "Ich werde Einwanderer nicht verteufeln und sagen, sie seien Gift im Blut unseres Landes." Die ultrarechte Abgeordnete Marjorie Taylor Greene rief bei der Rede immer wieder dazwischen. Die Republikanerin setzte sich vor Beginn der Rede eine rote Trump-Kappe mit der Aufschrift "Make America Great Again" auf. Die Kappe trug auf der Rückseite die Aufschrift "Trump 2020" und stammt damit offenbar aus dem vergangenen Präsidentschaftswahlkampf. Sie trug auch ein T-Shirt mit der Aufschrift "Say Her Name" und einen Button mit dem Bild von Laken Riley. Die 22-jährige Studentin wurde zum Politikum, nachdem sie im Februar in Taylor Greenes Heimatbundesstaat Georgia ermordet wurde. Bei ihrem Mörder handelt es sich offenbar um einen illegal eingewanderten Venezolaner, der zwar an der Grenze aufgegriffen, von den Behörden aber dennoch ins Land gelassen wurde.

Marjorie Taylor Greene trug ein Bild der ermordeten Laken Riley.
AP/Shawn Thew

Am Donnerstag stimmte das Repräsentantenhaus für ein "Laken Riley Act" genanntes Gesetz, das die Inhaftierung aller Migranten vorsieht, die einen Einbruch oder Diebstahl begangen haben. Für die vom Republikaner Mike Collins eingebrachte Regelung stimmten alle Republikaner, aber auch 37 Demokraten. Biden nahm in seiner Rede ebenfalls Bezug auf Laken Riley. "Laken Riley, eine unschuldige junge Frau, die von einem Illegalen getötet wurde – das ist richtig", sagte Biden. Aber wie viele von den tausenden Menschen würden von Menschen getötet, die nicht ohne Aufenthaltsgenehmigung im Land seien, so Biden. Er wisse, wie es sich anfühle, ein Kind zu verlieren, sagte er an die Eltern des Mordopfers gerichtet, die eine Einladung Collins' zu Bidens Rede nicht angenommen hatten.

Der Amtsinhaber rief auch dazu auf, die Demokratie in den USA mit aller Kraft zu verteidigen. "Mein Vorgänger und einige von Ihnen hier versuchen, die Wahrheit über den 6. Jänner zu begraben", sagte Biden mit Verweis auf Trump und den Sturm auf das US-Kapitol am 6. Jänner 2021, als Trump-Anhänger den Parlamentssitz in Washington stürmten. Die Verschwörung, das Wahlergebnis nachträglich zu kippen, habe die größte Bedrohung für die Demokratie seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg dargestellt, sagte Biden. Doch Amerika sei stark gewesen, und die Demokratie habe sich durchgesetzt. Biden nannte Trump nicht namentlich, sondern bezeichnete ihn lediglich als seinen Vorgänger. Insgesamt 13-mal in seiner Rede umschiffte Biden die Namensnennung seines Konkurrenten.

Ältester Präsident

Am Ende thematisierte Biden auch sein Alter. "In meiner Laufbahn hat man mir immer wieder gesagt, ich sei zu jung und zu alt. Ob jung oder alt, ich habe immer gewusst, was Bestand hat", sagte der 81-Jährige. Es sei die Idee Amerikas, dass alle gleich geschaffen seien und es verdienten, das ganze Leben lang gleich behandelt zu werden. "Wir sind dieser Idee nie ganz gerecht geworden, aber wir haben uns auch nie von ihr entfernt. Und ich werde mich auch jetzt nicht von ihr entfernen."

Bidens Alter gilt als seine größte Bürde im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf. Der Demokrat war 2021 als bisher ältester Präsident ins Weiße Haus eingezogen und will bei der Wahl im November für eine weitere Amtszeit antreten. Sollte er erneut gewählt werden, wäre er am Ende seiner zweiten Amtszeit 86 Jahre alt. Biden macht regelmäßig Schlagzeilen mit Patzern und Versprechern. Bei der langen und vielbeachteten Rede zur Lage der Nation, die diesmal mitten in den Präsidentschaftswahlkampf fiel, stand er deswegen unter besonderer Beobachtung.

Dutzende US-Demokratinnen trugen bei der Rede Weiß. Sie demonstrierten damit für Frauenrechte. Biden ging bei der Ansprache auch auf die Beschränkung der Abtreibungsrechte in den USA durch den Supreme Court ein. Die weiße Kleidung ist ein Symbol für die Suffragetten-Bewegung. Anfang des 20. Jahrhunderts demonstrierten Frauen in den USA in weißer Kleidung für ein flächendeckendes Frauenwahlrecht.

Demokratinnen ganz in Weiß.
AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

Auch andere Gäste setzten mit ihren Outfits politische Statements. So zeigten sich die Demokratin Nikema Williams und andere Frauen in Blau, um sich mit den israelischen Geiseln zu solidarisieren. Die palästinensischstämmige Demokratin Rashida Tlaib, ihre Kollegin Ilhan Omar und andere Demokratinnen waren in Schwarz gekleidet und trugen Palästinensertücher. Während der Rede hielten sie Tafeln mit Slogans gegen die Unterstützung Washingtons für das von der islamistischen Terrororganisation Hamas überfallene Israel in die Höhe.

Rashida Tlaib protestierte mit weiteren Kolleginnen gegen Unterstützung für Israel.
AFP/ANDREW CABALLERO-REYNOLDS

(red, APA, 8.3.2024)