Zwei Jahre ist Johannes Rauch nun Gesundheits- und Sozialminister. Corona ist großteils vergessen, Nachwirkungen der Pandemie beschäftigen den Grünen aber nach wie vor. Bei der Nationalratswahl werde Rauch nicht kandidieren, wahlkämpfen, um Kickl als Kanzler zu verhindern, wolle er "selbstverständlich". Die EU-Wahl sei die wichtigste seines Lebens, um den Vormarsch der Rechten zu stoppen.

Johannes Rauch (Grüne) hofft, dass die Rechten bei der EU-Wahl nicht zu stark zulegen. Die FPÖ biete keine einzige Lösung.
Heribert Corn

STANDARD: Vergangene Woche ist eine 14-Jährige wahrscheinlich an einer Überdosis Medikamente verstorben, leider ist das kein Einzelfall. Außerdem sind mehr Junge unter den Drogentoten, und die Suizidalität ist um das Dreifache gestiegen. Was ist hier los?

Rauch: Wir haben nach diesen multiplen Krisen eine zunehmende ökonomische Belastung der Haushalte. Und das wirkt sich auch auf die mentale Gesundheit von Jugendlichen aus. Die gesellschaftlichen und psychologischen Folgen von Corona sind fulminant. Und es gibt massive Unterschiede zwischen Burschen und Mädchen. Dass Mädchen und junge Frauen von vielen Erkrankungen stärker betroffen sind, zeigt sich auch in unserem Projekt "Gesund aus der Krise". Hier wird jungen Menschen innerhalb von drei Wochen eine Behandlung vermittelt. Mehr als 15.000 haben wir bis jetzt betreut. 62 Prozent sind weiblich.

STANDARD: Ein wichtiges Projekt, das eine nächste Regierung aber einfach wieder abdrehen könnte, oder?

Rauch: Könnte sie nicht, weil das Projekt bis 2025 ausgelegt ist.

STANDARD: Einige fordern Therapie als Kassenleistung oder zumindest eine höhere Kostenübernahme.

Rauch: Das ist Aufgabe der Sozialversicherung, auch in der Vertragsausgestaltung. Wir verankern jetzt Psychotherapie als Universitätsstudium, das halte ich für wichtig. Bereits umgesetzt ist die Gleichbehandlung der Psychologen mit den Psychotherapeuten – damit verdoppelt sich das Angebot potenziell auf einen Schlag. Hier wird derzeit zwischen Sozialversicherung und dem Berufsverband der Psychologen ein Vertrag ausverhandelt. Richtig ist: Es braucht mehr an kassenärztlicher Abgeltung für psychosoziale Behandlungsformen.

STANDARD: Was auch fehlt, sind Fachärzte im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie. Im internationalen Vergleich steht Österreich nicht gut da.

Rauch: Das ist eine sehr vorsichtige Umschreibung des Zustandes. Ja, wir haben ein Problem. Wir hatten schon immer viel zu wenige, jetzt sind die Anforderungen aber gestiegen. Kriseninterventionen sind beispielsweise teils nicht möglich, weil kein Psychiater akut verfügbar ist. Was zur Folge hat, dass die Personen in der stationären Psychiatrie landen, wo sie noch gar nicht hingehören. Beim Ausbau der Kassenverträge gehört dieses Fach deshalb zu unseren Prioritäten. Zudem haben wir zusätzliche Ausbildungsplätze geschaffen.

STANDARD: Sie sprechen die 100 zusätzlichen Kassenstellen an, die hätten schon ausgeschrieben werden sollen.

Rauch: Die Ausschreibung läuft bereits, und zwar bestens. Es gibt für die 100 Stellen mehr als 600 Bewerbungen. Entgegen manchen Unkenrufen wird es kein Problem sein, die zu besetzen.

STANDARD: Die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist Querschnittsmaterie, wenn man etwa an den Mangel an Schulpsychologen denkt. Bräuchte es nicht einen runden Tisch, ähnlich wie zuletzt beim Thema Gewalt an Frauen?

Rauch: Die nächste Regierung, egal wie sie ausschaut, wird ein längerfristig angelegtes Programm entwickeln müssen, einen nationalen Aktionsplan. Wobei ich solche Pläne nur dann für sinnvoll halte, wenn sie auch mit Geld und Gesetzen ausgestattet werden. Zunächst geht es aber darum, zu der Erkenntnis zu kommen: Wir haben ein massives Problem. Und wenn wir das nicht lösen, verlieren wir tausende Jugendliche. Wir können es uns aber nicht leisten, auch nur einen einzigen zu verlieren. Das muss Teil des nächsten Regierungsprogramms sein.

STANDARD: Haben Sie das Gefühl, dass diese Erkenntnis in anderen Ressorts vorhanden ist? Ein Sozialarbeiter hat im STANDARD gemeint, Probleme von Kindern und Jugendlichen würde die Politik nicht ernst nehmen.

Rauch: Ich sehe sie, ich nehme sie wahr. Ich bekomme sie geschildert, weil ich einen guten Teil meiner Zeit in diesen Einrichtungen verbringe. Jetzt wird es darauf ankommen, das Bewusstsein auch in den anderen Ressorts dafür zu schärfen. Im Bildungsbereich müssten eigentlich auch die Alarmglocken läuten, wenn man sich etwa die Entwicklungen bei Schulverweisen ansieht. Das ist eine Pandemie nach der Pandemie, so muss man das sagen und dann reagieren. Es braucht einen nationalen Schulterschluss.

STANDARD: Apropos Schulterschluss: Sie haben in letzter Zeit öfter gesagt, dass Sie nicht das Gefühl haben, dass die Bevölkerung erkannt hat, was es für fatale Auswirkungen hätte, wenn die Rechte bei der EU-Wahl stark zulegt. Wie soll das denn ankommen?

Rauch: Ich versuche immer, anhand von Beispielen klarzumachen, wie sehr wir ein starkes, offenes Europa brauchen. Bei der Versorgung mit lebensnotwendigen Medikamenten würde Österreich alleine auf verlorenem Posten stehen. Das wird nur gelingen in einem gemeinsamen europäischen Beschaffungsprozess. Zweiter Punkt: Anwerbung von Pflegekräften in Drittstaaten. Es wird uns nicht gelingen, wenn Vertreter von einzelnen Bundesländern dafür durch die Welt reisen. Es braucht eine gemeinsame europäische Anstrengung dafür, weil wir uns sonst wechselseitig niederkonkurrieren. Oder auch die Verankerung von sozialen MindestStandards in der EU. Wenn wir da nicht investieren, dann verlieren wir die Demokratiefähigkeit. Nur ein sozialer Staat ist in der Lage, die Demokratie zu erhalten.

STANDARD: Glauben Sie, dass die Demokratiefähigkeit ein Anliegen ist, wenn die FPÖ seit über einem Jahr in Umfragen auf Platz eins liegt?

Rauch: Ich habe vor kurzem eine Studie präsentiert bekommen, wonach derzeit die Teuerung den größten Impact auf das Wohlbefinden der Menschen hat. Aber an nächster Stelle kommt die Sorge um die Demokratie. Offensichtlich haben einige schon das Gefühl, dass da etwas ins Rutschen gerät. Das muss noch stärker in die Köpfe hinein und auch bei den Europawahlen thematisiert werden. Weil wenn wir diesen europäischen Zusammenhalt verlieren, dann verlieren wir auch die Fähigkeit der Europäischen Union, uns gegen Bedrohung von außen zu schützen. Stichwort russische Aggression. Und deshalb sage ich: Diese Wahlen sind die wichtigsten meines politischen Lebens.

STANDARD: Nichtsdestotrotz liegt die FPÖ vorn. Parteien, die diese Werte betonen, wie die Grünen, büßen Stimmen ein.

Rauch: Ich habe in meinem politischen Leben gelernt: Niemals aufgeben, weil abgerechnet wird zum Schluss. Darum zu ringen, dass Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie erhalten bleiben, das bin ich meinen Kindern und Enkelkindern schuldig. Das ist meine Motivation. Was die FPÖ macht, ist, auf der negativen Stimmungswelle zu surfen. Die FPÖ ist eine Krisengewinnerpartei. Eine Krisengewinnerpartei, die keine einzige Lösung anbietet. (Lara Hagen, 11.3.2024)