Wladimir Putin
Wenn Putin stets so war wie heute, dann hätte man ihn im Westen niemals hoffieren dürfen.
AFP/POOL/GAVRIIL GRIGOROV

Am Anfang seiner Präsidentschaft galt Wladimir Putin bei den Regierungen in Westeuropa und den USA als demokratische Hoffnung für Russland und konstruktiver Partner für die Nato und die EU. Wenn er nun sich zu seiner fünften Amtszeit wählen lässt, wird Putin nur noch als Tyrann gesehen, der einen brutalen Angriffskrieg mit massiven Menschenrechtsverletzungen gegen ein demokratisches Nachbarland führt.

Darüber herrscht weitgehend Einigkeit. Weniger klar ist, ob Putin immer schon so böse war und in seinen frühen Jahren bloß falsch eingeschätzt wurde oder ob er sich geschickt verstellt. Oder er war anfangs anders und ist erst im Lauf der Jahre zum Bösewicht geworden.

Diese Frage ist nicht nur für die Geschichtsschreibung interessant. Wenn Putin stets so war wie heute, dann hätte man ihn im Westen niemals hoffieren dürfen und dann kann er auch heute nur mit Druck, Macht und Gewalt in die Schranken gewiesen werden. Hat er sich aber erst aufgrund von äußeren Faktoren zum Repressor und Aggressor entwickelt, dann trägt der Westen eine gewisse Mitverantwortung, hätte anders mit ihm umgehen müssen – und sollte das wohl auch in Zukunft tun.

Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Wir stellen hier beide Versionen der Geschichte vor und lassen Sie, liebe Smart-Abonnentinnen und -Abonnenten, entscheiden, woran Sie eher glauben.

Version 1: Putin war immer schon böse

In einer vielbeachteten Rede, die unzählige Male auf Youtube angeklickt wurde, berichtete 2003 der Kaisersohn und damalige CSU-Europaabgeordnete Otto Habsburg, wie er erstmals von Wladimir Putin gehört hatte. Das war in während der Wende 1990 in Dresden, als ihm Demonstranten von einem jungen KGB-Agenten erzählten, der besonders verhasst sei. Ab diesem Zeitpunkt interessierte sich Habsburg für Putin und warnte regelmäßig vor ihm, sobald er 1999 in Moskau an die Macht gekommen war. Wie man heute weiß, lag er damit richtig. Dass er in den 1990er-Jahren für den liberalen Bürgermeister von Sankt Petersburg, Anatoli Sobtschak, arbeitete, sagte nichts über seine Weltanschauung aus.

Kaum hatte der russische Präsident Boris Jelzin Putin im August 1999 zu seinem Premier ernannt, kam es in Moskau zu einer Reihe ungeklärter Bombenanschläge auf Wohnhäuser mit 94 Toten, für die Putin tschetschenische Terroristen verantwortlich machte. Daraufhin eröffnete Putin den zweiten Tschetschenienkrieg, in dem die Hauptstadt Grosny fast dem Erdboden gleichgemacht wurde – ein Vorgeschmack auf die späteren Angriffe auf die Ukraine. Vieles deutet darauf hin, dass der russische Geheimdienst hinter den auslösenden Anschlägen stand. Der Krieg machte Putin populär und trug dazu bei, dass Jelzin ihn am 31. Dezember 1999 zu seinem Nachfolger ernannte.

Innenpolitisch gab sich Putin zunächst liberal und gewann die erste Wahl mit fairen Mitteln. Aber als der Oligarch Michail Chodorkowski begann, mit seinem Vermögen oppositionelle Gruppen zu finanzieren, und Putin Korruption vorwarf, ließ dieser ihn im Oktober 2003 verhaften und steckte ihn unter fadenscheinigen Gründen für zehn Jahre in Straflager.

Dass Putin niemals von der Macht lassen würde, wurde ab 2008 klar, als er nach zwei Amtszeiten nicht mehr antrat, aber unter Dmitri Medwedew Ministerpräsident wurde, dort die Politik des Landes bestimmte und 2012 sich wieder zum Präsidenten wählen ließ. Die Proteste gegen ihn wurden brutal niedergeschlagen, und in den folgenden Jahren wurden zahlreiche Oppositionelle und Kritiker Opfer von Anschlägen im In- und Ausland. Allein das von ihm durch Korruption angehäufte Milliardenvermögen würde einen Machtverzicht zu einem gewaltigen persönlichen Risiko machen.

Auch in der Außenpolitik wurde bald klar, dass Putin am alten sowjetischen Großmachtdenken festhielt und dies mit aggressivem großrussischem Nationalismus verband. Schon 2005 bezeichnete er den Untergang der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts." 2004 versuchte er seinen ukrainischen Verbündeten Wiktor Janukowitsch mit gefälschten Wahlen als Präsidenten zu installieren, was nur durch einen Volksaufstand, die Orangene Revolution, verhindert wurde.

2008 marschierte die russische Armee in Georgien ein, das einen prowestlichen Kurs eingeschlagen hatte, und besetzte die abtrünnige Provinz Südossetien. Als ein neuerlicher Volksaufstand 2014 in Kiew die Abdankung von Janukowitsch, der inzwischen eine Präsidentenwahl gewonnen hatte, erzwang, annektierte Putin gegen alle völkerrechtlichen Verpflichtungen die Krim und zettelte eine Rebellion im Donbass an, die in einen jahrelangen Krieg mündete. Und wer noch Zweifel an Putins wahrer Natur hatte, wurde mit dem zweiten Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 eines Besseren belehrt: Aggression nach außen und brutale Repression nach innen waren immer schon sein politisches Programm. Man hätte es früher erkennen müssen.

Version 2: Der Westen trägt Mitschuld an Putins Entwicklung

Falsch, sagen andere. Man darf Wladimir Putin nicht isoliert sehen. Seine repressive Politik und seine Feindschaft gegenüber dem Westen werden von fast allen russischen Eliten und wohl auch der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. So wie er fühlen sich die meisten Russen von den USA und Europa verraten und fürchten um die Einheit ihrer Heimat, die von äußeren Kräften bedroht sei. Und dazu hat vor allem die Politik Washington viel beigetragen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion setzte die Regierung von Präsident Boris Jelzin auf eine Partnerschaft mit dem Westen, in der man der Großmacht Russland auf Augenhöhe begegnet. Als klar wurde, dass sich die Nato nicht auflöst, hoffte Moskau, dem Bündnis selbst beitreten zu können – und wurde nach eigener Lesart brüsk abgewiesen. Die erste Nato-Erweiterung 1999 mit Polen, Ungarn und Tschechien war schon problematisch, die nächste Runde 2004, die auch die drei Ex-Sowjetrepubliken im Baltikum umfasste, war für Russland eine Provokation. Noch schlimmer war die Nato-Intervention im Kosovo 1999 ohne Uno-Mandat, als US-Bomben auf Serbien, Russlands traditionellen Verbündeten, fielen.

Kurz darauf übernahm Putin das Steuer im Kreml, zuerst als Premier, dann als Präsident, und bemühte sich trotz dieser Umstände um ein gutes Verhältnis zum Westen. Nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 sprach er den USA seine volle Solidarität aus. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag zwei Wochen später reichte er den Europäern sprichwörtlich die Hände – und sah in den Jahren darauf wenig positives Echo. In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar 2007 klang Putin schon ganz anders. Aber statt dies als Warnung vor einer weiteren Ausgrenzung zu nehmen, tat der Westen alles, um Russlands Ängste zu verstärken.

Beim Nato-Gipfel 2008 wurden auch der Ukraine und Georgien ein Nato-Beitritt in Aussicht gestellt. Die Russen sahen sich immer stärker umzingelt und bedroht: Die USA wollten Russland militärisch, politisch und wirtschaftlich schwächen und möglicherweise sogar zerstückeln. In dieser Atmosphäre vermuteten Putin und die Männer um ihn auch in den Oppositionskräften eine ausländische Verschwörung. Dafür gab es auch gute Gründe, schließlich erhielt jeder, der sich gegen Putin stellte, psychologische oder gar finanzielle Unterstützung aus dem Westen.

Beim Maidan-Aufstand in Kiew Anfang 2014 kam alles zusammen: politische Einmischung des Westens, die zum Sturz von Putins Verbündeten Wiktor Janukowitsch, des demokratisch gewählten Präsidenten der Ukraine, führte, und ein verstärktes Streben des großen Nachbarlandes in die Nato.

Seine selbstgewählte Isolation während der Corona-Pandemie verschärfte Putins Gefühle der Bedrohung durch den Westen. Als Joe Biden dann im Jänner 2021 US-Präsident wurde und die militärische Allianz mit der Ukraine ausbaute, wuchsen sich diese Gefühle zur Panik aus. Putins Antwort war der Angriff auf die Ukraine. Dieser hatte unterschiedliche Motive, das stärkste aber war die Angst vor einer Umzingelung durch die Nato.

Niemand darf diesen Überfall entschuldigen, aber jene, die eine Mitschuld des Westens bei dieser tragischen Entwicklung sehen, können auf stichhaltige Argumente verweisen. Wenn diese Version stimmt, dann könnte ein weniger konfrontativer Umgang mit Putin das Verhältnis zu Russland womöglich entspannen und im besten Fall zu einer Friedenslösung in der Ukraine beitragen. Doch dafür ist es vielleicht schon zu spät. (Eric Frey, 15.3.2024)