Ralf Rangnick sehnt sich nach natürlicher Intelligenz.
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Es wurde ein etwas anderes Gespräch. Die Location war nicht außergewöhnlich, eine ganz normale Lobby in einem Ringstraßenhotel. Ist Teamchef Ralf Rangnick in Wien, bezieht er dort Quartier (Zimmer, nicht Lobby), Frühstück inklusive. Interviews verlaufen prinzipiell so: Der Journalist überlegt sich im Vorfeld Fragen, das kann Minuten, aber auch Stunden dauern. Zum Beispiel: Fällt David Alaba, dem das Kreuzband gerissen ist, für die Europameisterschaft zu einhundert oder nur zu 99,9 Prozent aus? Das würde einem binnen drei Sekunden einfallen. Es wäre naheliegend, mit Rangnick über die Verletzungsmisere zu reden, über Vierer- oder Dreierkette, vielleicht über Marko Arnautovic oder Michael Gregoritsch und über Österreichs Chancen bei der EM in Deutschland. Diese beginnt aber erst am 14. Juni, keine Sorge, all das kommt noch. Am Montag bezieht das Team ein Trainingslager in Marbella, am 23. März wird in Bratislava gegen die Slowakei getestet, am 26. März in Wien gegen die Türkei.

Man könnte über die Erwartungen plaudern, die Stärken, die Schwächen der Gegner, die Vorgaben. Aber man muss nicht, diese Eier werden erst gelegt. Und es sind lediglich Testpartien. In Zeiten wie diesen kann man auch über den Tellerrand blicken. Wobei Fußball natürlich ein zentrales Thema bleibt. Der 65-jährige Rangnick bestellt ein stilles Mineralwasser, der 63-jährige Reporter ein prickelndes, das ist gelebte Vielfalt. Der Teamchef erzählt so nebenbei von einem Video, das er auf Youtube gesehen hat. Bono, der Sänger von U2, hat ein Konzert in Las Vegas unterbrochen und an Alexej Nawalny erinnert, eine Art Nachruf gehalten. Er, Rangnick, habe Tränen in den Augen gehabt.

STANDARD: Was bewegt Sie momentan?

Ralf Rangnick: "Was momentan passiert, macht mich nachdenklich und traurig. In Deutschland und in Österreich gibt es politische Strömungen und Entwicklungen, die mir große Sorgen bereiten. Vor allem aufgrund der Geschichte der beiden Länder. Wenn uns die Historie beider Länder etwas gelehrt hat, dann ist es die Gefahr, die von Rechtsextremismus und Faschismus ausgeht. Man redet derzeit offen von Remigration und Deportation, manche finden das auch noch gut, für mich sind diese Begriffe schrecklich. Alle extremen Positionen sind schlecht. Ich bin Teamchef, aber ich bin auch Vater von zwei Söhnen. Ich sehe die Gefahr, dass die Rechtsextremen an die Macht kommen und sie einfache Lösungen für komplexe Probleme versprechen. Minderheiten werden verantwortlich gemacht. Es sind die Juden, die Ausländer, man findet irgendwen, der Schuld daran ist, warum es uns schlecht geht. Dabei geht es uns in Europa immer noch relativ gut."

STANDARD: In den USA wird auch gewählt. Der extreme Herr Trump könnte als Präsident zurückkehren. Wie das?

Rangnick: "Ja, womöglich wird Donald Trump in den USA wiedergewählt. Wie kann das sein nach all den juristischen Verfahren, nach der Erstürmung des Kapitols? Trump verbreitet Angst, Hass und Verschwörungstheorien. Was ist los mit den USA? Wir reden von künstlicher Intelligenz. Ich habe vielmehr Sehnsucht nach der natürlichen Intelligenz. Unser Planet hat so viele Probleme: Klima, Armut, Kriege, Flucht. Würden wir dort leben wollen, wo es nicht genug zum Essen und kein Wasser gibt? Kann man wo nicht überleben, ist es klar, dass man woanders hingeht. Das ist reiner Selbsterhaltungstrieb. Nehmen wir den Klimawandel. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr sagen können: Kümmern wir uns in ein paar Jahren darum. Es ist vielleicht schon fünf Minuten nach zwölf. Wir können alles nur gemeinsam lösen, es ist ein gemeinsamer Planet. Das müssen wir verstehen.

STANDARD: Überkommt Sie manchmal das Gefühl der Machtlosigkeit? Ist der Kampf gegen die Verblödung, den Hass, die Gewalt, die Erregung aussichtslos?

Rangnick: "Das Gefühl der Machtlosigkeit ist gewiss in manchen Situationen vorhanden. Aber jeder kann in seinem persönlichen Bereich etwas tun. Es ist gut, dass es Massendemonstrationen gegen rechts gibt, die schweigende Mehrheit nicht mehr länger bereit ist, den Mund zu halten. Wir können nicht sagen, wir sind Sport, wir halten uns komplett aus allem raus. Wir stehen alle in der Verantwortung."

Ralf Rangnick macht sich viele Gedanken und Sorgen.
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STANDARD: Kann das österreichische Nationalteam die Welt tatsächlich ein bisserl besser machen? Ist das nicht eine leicht naive Annahme?

Rangnick: "Wir dürfen nicht zulassen, dass es so weitergeht. Ich will nicht, dass unsere Enkelkinder leiden. Auch wir als Nationalmannschaft müssen aufstehen, für die richtigen Werte eintreten. Schauen wir unser Team an, man kann sich auch auf das deutsche oder ein anderes beziehen. Nehmen wir alle raus, die Migrationshintergrund haben, da bleibt nicht viel übrig. Wir im Fußball leben Toleranz und Integrität, wir sind die heterogenste Sportart."

STANDARD: Gerade im Fußball kommt es europaweit mitunter zu Auswüchsen. Auf den Tribünen, im Umfeld eines Spiels. Nach dem Derby haben einige Rapidler homophobe Gesänge angestimmt. Sie haben sich zwar entschuldigt, aber so toll läuft es auch nicht.

Rangnick: "Es gibt blitzgescheite Kicker. Wären sie nicht Profifußballer geworden, wären sie Professoren oder Topmanager. Ein David Alaba hätte in anderen Sparten Karriere gemacht. Er repräsentiert, wofür Fußball und unsere Gesellschaft stehen. Wir werden im Nationalteam keine Diskriminierung und Respektlosigkeit tolerieren. Wir stehen für ein wertschätzendes Miteinander."

STANDARD: Ist der Fußball mittlerweile nicht etwas abgehoben?

Rangnick: "Wir hatten früher Respekt vor Eltern, Lehrern, Ordnungsbeamten, Ärzten. Im heutigen Vereinsfußball gibt es kaum noch Eltern oder Spielberater, die sagen: ‚Du kannst nicht über Wasser gehen, es ist eine Blase, du bist kein besserer Mensch, weil du jetzt viel Geld verdienst.‘ Du musst Werte vermitteln, hast eine Vorbildfunktion, egal ob du willst oder nicht. Wenn das der Sportdirektor, der Trainer nicht mehr macht, wer dann? Erziehung ist anstrengend, vor allem wenn es die eigenen Kinder sind. Am Ende geht es, auch wenn es pathetisch klingt, um zwei Pole. Angst und Hass einerseits, Liebe andererseits. Ist die Grundlage Liebe, dann schaffen wir es. Die Gefahr, dass der Hass gewinnt, besteht leider. Dem müssen wir gemeinsam entgegenwirken."

STANDARD: Wem gehört der Fußball?

Rangnick: "Ich bin ein Traditionalist, ein Romantiker, ich würde am liebsten keine VIP-Räume in den Stadien haben, nur Bratwurst. Ich kann aber auch nicht sagen, ich hätte lieber Pferdekutschen statt Autos. Das Leben entwickelt sich weiter. Als ich ein junger Kerl war, bin ich von den Lehrern schief angeschaut worden, weil ich so viel Fußball gespielt habe. Damals war Fußball der Sport der Arbeiter und auch der Flüchtlinge. Wir waren Heimatvertriebene, ich bin in einer Metallwanne als Hausgeburt auf die Welt gekommen, wir hatten wenig bis nichts. Heute ist Fußball in allen sozialen Schichten beliebt und populär. Die Diskussion, wem gehört der Fußball, wird vielerorts als offener Konflikt ausgetragen. Für mich gibt es aber nur eine Antwort: Er gehört allen."

STANDARD: Wie schaut für Sie der perfekte Tag aus?

Rangnick: "Ich habe mir vorgenommen, nur noch Dinge zu machen, die Energie geben oder spenden. Teamchef zu sein macht mir enormen Spaß. Ich freue mich, die Jungs zu sehen. Was kann schöner sein im Leben, als mit hochkompetenten, charakterlich integren Menschen die Zeit zu verbringen. Das ist ein Privileg. Ich glaube, es ist wichtig, dass Menschen, die das Herz am rechten Fleck haben, sich zusammentun. Die Leiwanden müssen zusammenhalten, aufstehen. Sie dürfen nicht schweigen, sie müssen den Mund aufmachen." (Christian Hackl, 16.3.2024)