Die Häuser, eine Autostunde nordwestlich von Kiew, wurden gleich nach Kriegsausbruch zerstört. Zwischen den zerfallenen Mauern wuchern nun junge Bäume und Büsche. Eigentlich liegt der Krieg in dieser Gegend bereits zwei Jahre zurück. Doch an diesem spätwinterlichen Tag wird hier, unweit von Hostomel, wieder gekämpft. An die 70 Männer und Frauen in Uniform trainieren den Häuserkampf. Aufgeteilt in zwei Gruppen verstecken sie sich hinter Mauern, liegen flach auf dem Boden und versuchen ihre Gegner mit Luftdruckgewehren zu treffen. Vorbereitung auf den Ernstfall.

Bevor es zum Einsatz an der Front kommen kann, werden Zivilisten wie der 21-jährige Yelysei (li.) nahe Kiew in Kampftechniken geschult.
Bevor es zum Einsatz an der Front kommen kann, werden Zivilisten wie der 21-jährige Yelysei (li.) nahe Kiew in Kampftechniken geschult.
Helena Lea Manhartsberger

Gekommen sind Menschen – wie der 21-jährige Yelysei –, die sich ein Bild vom Fronteinsatz machen wollen, oder bereits mit dem Gedanken spielen, einzurücken. Das Training sei für ihn weit mehr als ein Spiel, sagt Yelysei. "Ich bin hier, weil ich meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten verbessern und mich auf mein zukünftiges Leben vorbereiten will." In der Hand hält er einen Behälter mit weißen Plastikkügelchen. Nach der ersten Runde lädt er das Luftdruckgewehr erneut.

Einer der Trainer der ukrainischen Freiwilligenarmee, die den Kurs organisiert, erklärt in den Pausen die Taktik für den nächsten Angriff. Der 31-jährige Soldat mit dem Rufnamen "Kast" zeigt auf eine militärische Landkarte, die vor ihm auf dem Boden liegt. "Die Teilnehmenden hier können trainieren, lernen. Wenn sie an der Front sind, werden sie die Zeit dafür nicht mehr haben", sagt Kast. Das Wichtigste sei, dass sie verstehen, dass sie an der Front keine zweite Chance bekommen.

Teure Mobilmachung

Die ukrainische Armee benötigt dringend mehr Soldaten. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach bereits im Dezember von 450.000 bis 500.000 Menschen. Doch die Entscheidung bezüglich einer erneuten Mobilmachung müsse aus mehreren Gründen sorgfältig getroffen werden, auch weil das Vorhaben den Staat 500 Milliarden Hrywnja (zwölf Milliarden Euro) kosten würde. Die ukrainischen Sicherheits- und Verteidigungskräfte müssen aufgestockt werden, teilt auch das ukrainische Verteidigungsministerium auf Anfrage mit. Doch bei den von Präsident Wolodymyr Selenskyj genannten Zahlen handle es sich um Schätzungen, die je nach Situation auf dem Schlachtfeld angepasst werden. In den kommenden zwei Monaten sollen 27 Rekrutierungszentren eröffnet werden. Als Ersatz für die Mobilisierung sei das allerdings nicht zu sehen, so das Verteidigungsministerium.

Bereits im November hat das Verteidigungsministerium ein Rekrutierungsprojekt gestartet, das Personen die Möglichkeit geben soll, eine bestimmte Einheit und Position zu wählen. Derzeit läuft das Projekt auch über mindestens vier Onlineplattformen, darunter Olx.ua, eine Anzeigenplattform à la Willhaben.at, und die Jobplattform work.ua. Das ukrainische Forbes-Magazin recherchierte dort, auf welche Stellen bei der Armee sich die Kandidaten am häufigsten bewerben. Unter den top drei: Buchhalter, Sachbearbeiter, Koch.

Mehr als 43.000 Frauen sind nach aktuellen Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums Teil der Armee – aber nur wenige Tausend kommen an der Front tatsächlich zum Einsatz.
Mehr als 43.000 Frauen sind nach aktuellen Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums Teil der Armee – aber nur wenige Tausend kommen an der Front tatsächlich zum Einsatz.
Helena Lea Manhartsberger

Die Kluft wird größer

Darüber, dass die Ukraine von der Unterstützung der westlichen Verbündeten abhängig ist, macht sich hierzulande niemand Illusionen. Darüber, dass sich in Russland bald etwas ändern wird oder die Angriffe gar aufhören, auch nicht. Währenddessen scheint aber die gesellschaftliche Kluft zwischen jenen, die kämpfen, und jenen, die noch nie an der Front waren, immer größer zu werden. Militäroffizier Andrij Katschor sitzt in Uniform in einem Kaffeehaus in einer hektischen Einkaufsstraße im Zentrum von Kiew. Um ihn herum bestellen die Besucher Tee und Cappuccino, aus den Boxen dröhnt Elektropop. Er selbst bleibt bei einem Glas Wasser.

Seit März 2022 kämpft der 38-Jährige, davor war er als Journalist in Winnyzja in der Westukraine tätig. "Für viele von uns ist es demotivierend, in die Städte zu kommen und diese große Anzahl junger gesunder Männer zu sehen, die noch nie an der Front waren", sagt er. Seit Jahresbeginn tritt er immer wieder als Sprecher bei Veranstaltungen in Kiew und Umgebung auf, bei denen sich Interessierte über die Armee informieren können. Viele Soldaten seien müde, sagt Katschor. "Sie wissen nicht, wie lange sie noch an der Front bleiben müssen. Sie sind müde von der Ungewissheit."

Im Kampf verwundete Veteranen bilden nun andere Soldaten aus.
Im Kampf verwundete Veteranen bilden nun andere Soldaten aus.
Helena Lea Manhartsberger

Die Ungewissheit davor, wie lange der Dienst in der Armee dauern wird, ist einer der Gründe, weshalb sich viele vor der Einberufung fürchten. Manche Männer verlassen ihre Wohnungen nur noch selten. Andere informieren sich über Telegram-Gruppen darüber, an welchen U-Bahn-Stationen oder Einkaufszentren Beamte zu sehen seien, die eventuell Einberufungsbefehle aushändigen könnten. "Ich habe viel über dieses Thema nachgedacht", sagt Katschor. "Es fällt mir schwer, eine Haltung gegenüber diesen Männern einzunehmen. Ich bin nicht wütend auf sie. Aber ich frage mich, wie jemand, der es vermieden hat zu kämpfen, jemandem später in die Augen schauen kann, der gekämpft hat." Die Ukraine habe keine andere Wahl, als mehr Menschen in die Armee aufzunehmen, es gehe um das Überleben der Nation, so Katschor.

Marko, dessen Name hier geändert wurde, sieht das anders. Der 37-Jährige lebt in einem Vorort von Kiew und beschäftigt sich mit Töpferei. Bis zum Krieg gab er Kurse für Menschen, die sich künstlerisch ausdrücken wollen. "Ich möchte nicht, dass jemand in meiner Situation ist. Ich existiere nur noch, ich lebe mein Leben nicht. Mein ganzes Leben ist wie eingefroren", sagt er. "Es ist, als ob ich jemandem gehöre und irgendwelche Schulden abbezahlen muss. Das ist doch Unsinn."

Keine Demobilisierung

Zu Beginn des Krieges habe er sich freiwillig gemeldet, doch aufgrund seiner fehlenden Vorerfahrung sei er nicht genommen worden. Nun schließt sich der Kreis immer enger um ihn. Er sagt, dass bereits acht seiner Freunde kämpfen. Einige von ihnen erhielten die Einladung in Alltagssituationen, bei der Arbeit etwa, so, wie es der derzeitige legale Rahmen vorsieht.

Überall im Land finden sich Plakate, die dazu aufrufen, sich der Armee anzuschließen.
Überall im Land finden sich Plakate, die dazu aufrufen, sich der Armee anzuschließen.
Helena Lea Manhartsberger

Zur Angst vor der Aussicht, in einem Schützengraben an der Front zu landen, kommt die Sorge davor, dass ein möglicher Einsatz auf unbestimmte Zeit hinauslaufen kann. Open end sozusagen. Zwar unterzeichnete Selenskyj Ende Februar ein Gesetz, das die Entlassung von Soldaten ermöglicht, die ihre vorgeschriebene Militärdienstzeit bereits vor Beginn der Invasion angetreten und abgeleistet haben – also Wehrpflichtige aus den Jahren 2019 bis 2021. Doch ein Konzept zur Demobilisierung jener Soldaten, die seit dem 24. Februar 2022 kämpfen, gibt es noch immer nicht. Nach Ausrufung des Kriegsrechts wurde nicht nur die Wehrpflicht, sondern auch die Demobilisierung abgeschafft.

Marko hat das Gefühl, dass es keinen Ausweg gebe, wenn man einmal Teil der Armee sei. "Für mich fühlt sich das wie eine Falle an. Wenn du dort ankommst, war’s das." Jeder verstehe das. Es gebe keine Optionen, und der einzige Weg, dem zu entkommen, sei durch eine schwere Verletzung. "Oder indem man stirbt", sagt Marko. Vielleicht könne man auch eine Menge Geld bezahlen, um sich irgendwie freizukaufen. Er selbst hat die Entscheidung getroffen, sich nicht weiter vorzubereiten. "Ich habe das Gefühl, dass das der erste Schritt zur Teilnahme wäre, und das will ich nicht." (Daniela Prugger aus Hostomel und Kiew / Fotos: Helena Lea Manhartsberger, 23.3.2024)