Toni Kroos spielt Schach mit dem Ball.
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Es dauerte gerade einmal acht Sekunden. Acht Sekunden, bis sie ihm wieder zu Füßen lagen und die weißen, blitzblank polierten Adidas Adipure 11Pro küssten. Acht Sekunden, in denen quasi alles vereint war, das sie an dem Mann mit der Nummer acht so liebten – aber auch so verachteten. Vier Ballberührungen, eine Drehung, ein Pass. Lyon, Samstag, kurz nach 21 Uhr: Als sich Toni Kroos nach Kai Harvertz’ Ankick den Ball mit einer Berührung in die eigene Hälfte legt, war das wohl für einen kurzen Augenblick Wasser auf die Mühlen der Kritiker: "Querpass-Toni ist zurück."

Kroos, der erst vor kurzem seine Rückkehr ins deutsche Nationalteam bekanntgegeben hatte, steht mit dem Rücken zum gegnerischen Tor, blickt direkt auf seinen Keeper André ter Stegen, ganz weit hinten im eigenen Goal. Neben ihm positionieren sich die Mitspieler. Viele erwarteten jenen Pass, der ihm so viel Schelte eingebracht hatte, obwohl 99 von hundert Spielern nach dem Anstoß einen risikolosen Alibipass spielen würden. Kroos drehte sich mit einer eleganten Bewegung nach links, spielte den perfekten Pass auf Florian Wirtz, der nach acht Sekunden zur 1:0-Führung für Deutschland traf. "Wir kicken mit Mut und Risikobereitschaft", war das erste Statement von ZDF-Kommentator Oliver Schmidt, nachdem sich seine Stimme wieder auf Normalniveau eingependelt hatte.

Der Zauber des Unsichtbaren

Dabei ist der finale Pass, das ultimative Risiko nicht die Kernkompetenz des 34-jährigen Kroos. Für das Spektakel sind andere zuständig. Die Show, das Rampenlicht sind die Mbappés, die Messis, die Vinicius Juniors, die Ronaldos. In der Fußballwelt wird an der absoluten Spitze gnadenlos unterteilt: nicht in gut und schlecht, denn sehr gut sind sie alle. Vielmehr in spektakulär und in brav, in kreativ und in bieder, in überraschend und in fleißig, also bemüht. Sieht man sich Kroos' Statistiken an, liegt die Vermutung nahe, dass der zentrale Mittelfeldspieler mehr Bausparer als Kryptogambler ist. Nur ja kein Risiko, nur ja keine unnötigen Ballverluste, lieber den einfachen, faden Pass zum nächststehenden Mitspieler. Prozentfußball, fernab von Verantwortung, alles für die Statistik. Man könnte sich nicht stärker täuschen.

Aber zuerst zu den Fakten, zu den Zahlen, die für Kroos Fluch und Segen zugleich sind. Segen, weil sie veranschaulichen, warum der Mann aus Greifswald, Mecklenburg-Vorpommern, zu den absolut besten Mittelfeldspielern der vergangenen Jahre zählt. In der aktuellen Champions-League-Saison hält der Deutsche bei einer Passstatistik von 95,9 Prozent. Von 510 Pässen brachte er 489 zu einem seiner Mitspieler. Und sein Trumpf ist genau diese Kontinuität: In den vergangenen zehn Liga-Saisonen lag dieser Wert immer über 90 Prozent. Anders gesagt: Der Mann weiß, wo seine Mitspieler sind, und sucht und findet sie auch. Besonders beeindruckend ist dieser Wert, wenn man sich seine Rolle im Spiel genauer ansieht.

Der Sinn der Kunst

Wenn es für Deutschland gut lief und sie ihn nicht Querpass-Toni nannten, nannten sie ihn Regisseur, Dirigent, Chef. Kroos ist im zentralen Mittelfeld der Taktgeber, hat sich mit seinem Spiel vor allem für Real Madrid in die Wahrnehmung des immens kritischen Publikums eingebrannt. In Madrid lieben, ja verehren sie ihre "roble alemán", ihre deutsche Eiche. Kroos ist mit dem Ball immer auf der Suche nach der Sinnhaftigkeit. "Ein Pass ist dann gut, wenn er Sinn macht", sagte einmal der ehemalige deutsche Mittelfeldspieler Michael Ballack. Kroos ist sinngebend. Er bestimmt die Seite, das Tempo, den Rhythmus seines Teams. Wenn er anzieht, ziehen alle an, wenn er abwartet, plätschert es, und er bereitet den nächsten Angriff vor. Sein Kurzpassspiel ist dabei von der ultimativen Präzision geprägt, den langen, öffnenden Pass beherrscht er ebenso, spielt ihn aber nur dann, wenn er ankommt – also Sinn macht.

In Madrid lieben sie ihn.
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Kroos selbst macht aus seiner Kunst kein Mysterium: "Ein Pass ist eine technische Ausführung, kein großes Geheimnis. Ein normaler Innenseitpass hat wenig Effet, ein Vollspannpass mit Unterschnitt hat einen Rückdrall. Und ein Pass mit dem Außen- oder Innenrist gibt dem Ball einen seitlichen Drall. All diese Varianten erfordern unterschiedliche Fußhaltungen, Technik also. Und die kann man immer trainieren", sagte er einmal im DeinSpiegel, der Kinderausgabe des Nachrichtenmagazins.

Neben seiner Technik (Zinédine Zidane: "Er hat eine nahezu perfekte Technik. Nahezu, weil es perfekt nicht gibt") besticht Kroos vor allem durch seine Präsenz, eine Gelassenheit und sein Spielverständnis – und erinnert dabei an einen Schachspieler: Seine Arbeit ist nicht getan, wenn der Mitspieler den Ball von ihm bekommt, Kroos denkt an den nächsten, den übernächsten Pass, klopft nur kurz auf die Schachuhr, dann geht es weiter. Immer weiter. Er gibt seinem Team, seinem Verein ein Gefühl: "Gebt mir den Ball, alles wird gut."

Schein und Sein

Die Bühne ist dabei austauschbar, Kroos spielt sein Spiel in der ersten Runde der Copa del Rey in der spanischen Pampa genau so wie im Champions-League-Finale. Pep Guardiola sagte: "Er ist immer da. Er spielt immer. Es ist egal, ob es regnet, heiß, eiskalt oder windig ist. Kroos mag es, Fußball zu spielen, er liebt es, Fußball zu spielen. Das unterscheidet ihn von anderen." Kroos selbst sagte über seine mangelnde Nervosität: "Es ist einfach nur Fußball." Fünfmal gewann er bislang die Champions League, je drei Meistertitel fuhr er in Deutschland (Bayern) und Spanien (Real) ein, 2014 wurde er mit den Deutschen Weltmeister.

Kroos wurde am 4. Jänner 1990 geboren, wuchs in Greifswald an der Ostsee auf, er und sein Bruder Felix lernten das Kicken beim Greifswald FC unter der Ägide ihres Vaters Roland. Als dieser 2002 als Jugendtrainer bei Hansa Rostock begann, zog es die Familie in die Großstadt. Roland war dabei eine Personalunion: Trainer, Papa, Förderer, Fürsprecher, Kritiker. Im Film "Kroos" erinnert sich Toni, dass genau das ein nicht immer einfaches Verhältnis bedeutete. Der Teenager Toni überzeugte im Rostock-Nachwuchs, erspielte sich die Aufmerksamkeit des FC Bayern und wechselte als 16-Jähriger in den Süden Deutschlands. Sein Bundesliga-Debüt gab er 2007 beim 5:0-Sieg gegen Energie Cottbus, schnupperte folglich an einem Stammplatz, um im Winter 2009 an Bayer Leverkusen ausgeliehen zu werden. Unter Trainer Jupp Heynckes schaffte er den Durchbruch und etablierte sich als fixe Größe im deutschen Fußball. Zur Saison 2010/2011 kehrte er zu den Bayern zurück. Eine Beziehung mit Hindernissen.

Wo ist Toni?

Als die Bayern 2012 das Finale "dahoam" in München gegen Chelsea im Elferschießen vergeigten, fragte sich Präsident Uli Hoeneß vielleicht zum ersten Mal: "Wo war Toni?" Kroos hatte keinen Elfer geschossen, er sagte im Nachhinein, dass er sich nicht so fühlte, als könnte er dem Team vom Elferpunkt aus helfen. In einer deutschen (Fußball-)Gesellschaft, in der das Übernehmen von Verantwortung manchmal wichtiger ist als eine präzise Flanke oder eine realistische Selbsteinschätzung, ist das freilich ein No-Go. Hoeneß war grantig. 2014 holte Kroos mit den Bayern noch einmal das Double, eine vorzeitige Vertragsverlängerung scheiterte aber. Kroos sagte später über die Vertragsverhandlungen: "Ich hatte nicht das Gefühl, dass der Verein glücklich war, sondern dass sie mir das Gefühl gaben, ich sollte glücklich sein." Er unterschrieb bei Real Madrid.

Glück ist nicht immer offensichtlich. Gerade in der Sonne des Erfolgs. Als Kroos mit Deutschland 2014 in Brasilien Weltmeister wurde, schien die Sonne ganz besonders hell. Beim legendären 7:1 im Halbfinale gegen die Gastgeber spielte Kroos eine der (oberflächlich) besten Partien seines Lebens. Die Bilder des Jubels nach dem Finalsieg aus der Kabine mit der damaligen Kanzlerin Angela Merkel gingen um die Welt. Man musste genauer hinschauen, um Weltmeister Kroos zu sehen, der Mittelfeldspieler war nicht Teil der Jubeltraube, band sich im Hintergrund die Schuhe auf. Als würde er sagen: "Es ist nur Fußball."

Wo ist Toni?
Facebook/DFB

Auch sonst lebt der 34-Jährige nicht unbedingt den klassischen Kicker-Lifestyle. Mit seiner Frau Jessica, die er in jungen Jahren auf Fuerteventura kennengelernt hatte, und den drei Kindern wohnt er im Umland von Madrid (laut Jessica "wie ein altes Ehepaar"), nach den Spielen geht es so schnell wie möglich nach Hause: "Wenn ich nach Hause komme, ist es egal, ob ich gewonnen oder verloren habe", sagte er.

Nach dem Weltmeistertitel ging es mit dem deutschen Fußball etwas bergab. Als Rutsche wurde auch Kroos auserkoren. Bezeichnend war etwa das zweite Gruppenspiel bei der WM 2018 gegen Schweden: Zunächst leitete Kroos mit einem wilden Fehlpass das 0:1 ein, um Deutschland in der Nachspielzeit mit einem Traum von einem Freistoß noch den Sieg zu retten. From hero to zero – und ganz oft hin und her.

Die Wahrnehmung

Nach dem Ausscheiden bei der Europameisterschaft 2021 gegen England erklärte Kroos seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft. Und irgendwie aus der Wahrnehmung. Der Fahnenflüchtige (106 Länderspiele, 17 Tore) wollte sich lieber auf Verein und Familie konzentrieren, in die Aufmerksamkeit schaffte es Kroos aber vor allem mit einem patzigen Interview nach dem Champions-League-Titel 2022, als er nach Spielende antwortete: "Also du hattest 90 Minuten Zeit, dir vernünftige Fragen zu überlegen, ehrlich – und dann stellst du mir zwei so Scheißfragen! Das ist ja Wahnsinn." Außerdem kritisierte er den Trend zu Transfers nach Saudi-Arabien und bewies auf seinen Social-Media-Kanälen Meinungsstärke und Humor.

Für Deutschland ist die Rückkehr von Kroos ein Jackpot. Natürlich einerseits, weil einer der besten Mittelfeldspieler des Planeten das weiße oder rosa Trikot tragen wird. Und andererseits, weil er einem Team im Umbruch ein Gesicht gibt, das sowohl Erfolg als auch Misserfolg kennt und mit beidem umgehen kann. Denn am Ende des Tages ist es einfach nur Fußball. (Andreas Hagenauer, 26.3.2024)