Während der Berg aus Blumen vor der Konzerthalle Crocus City Hall am Rande Moskaus auch drei Tage nach dem verheerenden Anschlag mit mindestens 137 Toten immer weiter wächst, übt sich der düpierte russische Sicherheitsapparat in jener Disziplin, die er immer schon am besten konnte: im öffentlichen Demonstrieren größtmöglicher Härte.

Verdächtiger in Moskau
Einer der vier angeblichen Tatverdächtigen wird in den Gerichtssaal gezerrt.
IMAGO/Kirill Zykov

Am Sonntagabend kursierten im russischen Fernsehen Aufnahmen aus einem Gerichtssaal im zentralen Moskauer Bezirk Basmanny, die schwer zugerichtete Tatverdächtige zeigen sollen. Einer der Männer wurde im Rollstuhl vorgeführt, ihm schien ein Auge zu fehlen; ein Zweiter – auch bei ihm soll es sich um einen tadschikischen Staatsangehörigen handeln – trug einen Verband über dem rechten Ohr; ein Dritter wies ein blaues Auge auf, Reste eines Plastiksacks hingen von seinem Hals. Und auch der vierte Tatverdächtige konnte seine Augen kaum offen halten, so geschwollen sah sein Gesicht aus. Wie die Verletzungen entstanden sein könnten, war zuvor in Videoclips auf Telegram ruchbar geworden. Dort war zu sehen, wie die Verdächtigen mit Elektroschocks malträtiert werden, auch die Amputation eines Ohrs wurde gefilmt.

Drei der vier Männer, die den Russinnen und Russen als mutmaßliche Attentäter präsentiert wurden, haben sich nach Angaben aus Moskau zu der Tat bekannt, zwei Monate sollen sie nun in Untersuchungshaft verbringen. Alle dürften sie aus der zentralasiatischen Ex-Sowjetrepublik Tadschikistan stammen, die seit längerem als Brutstätte islamistischen Terrorismus gilt. Zuletzt sollen sie aber so wie tausende ihrer Landsleute in Russland gelebt haben.

Putin will über Maßnahmen beraten

Noch am Montag beratschlagte Machthaber Wladimir Putin mit Vertretern der Sicherheitsbehörden. Anschließend machte er deutlich, was Russlands Propaganda ohnehin schon zuvor verbreitet hatte. Bei den Verdächtigen handle es sich um "radikale Islamisten", sagte er. Dennoch gehe er auch von einem Konnex zur Ukraine aus:„Diese Gräueltat ist möglicherweise nur ein Glied in einer Kette von Versuchen derjeniger, die sich seit 2014 durch die Hände des neonazistischen Kiewer Regimes im Krieg mit unserem Land befinden“ – man müsse sich schließlich fragen, wer von der Terrortat profitiere.

Von einer echten Aufarbeitung des offenkundigen Behördenversagens kann im Polizeistaat Russland aber vermutlich keine Rede sein. Obwohl der sogenannte Islamische Staat (IS) seit Freitag den Anschlag mehrmals für sich reklamiert hat und die USA sowie Frankreich die IS-Fraktion "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK oder IS-K) als Urheber vermuten, bemühte sich der Kreml nach Kräften, der Ukraine die Schuld zuzuschieben. Die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, warf den USA vor, nur von ihren "Mündeln" in Kiew ablenken zu wollen. In einem Beitrag für die linientreue Zeitung Komsomolskaja Prawda gab sie sich am Montag kryptisch: "Achtung – eine Frage an das Weiße Haus: Sind Sie sicher, dass es der IS war? Könnten Sie darüber noch mal nachdenken?"

Noch immer drücken Russinnen und Russen vor der angegriffenen Crocus City Hall ihre Anteilnahme aus.
EPA/MAXIM SHIPENKOV

Tatsächlich hatte die US-Botschaft in Moskau die russischen Behörden schon vor mehr als zwei Wochen vor einem Anschlag gewarnt – offensichtlich umsonst. Gerhard Mangott, Russland-Fachmann an der Universität Innsbruck, hält es durchaus für möglich, dass Putins ominöse "Ukraine-Spur" bei vielen Russinnen und Russen verfängt. Er sagte am Montag, vor Putins abendlichen Ausführungen, zum STANDARD, dies gelte "auf jeden Fall bei jenen, die nur das staatliche Fernsehen konsumieren. Es ist der Regierung aber auch zuzutrauen, dass sie schon bald mit einer neuen Deutung kommt: nämlich, dass es IS-Attentäter im Auftrag der Ukraine waren." Putin werde den Anschlag für neue Repression nutzen, etwa gegen zentralasiatische Arbeitsmigranten, glaubt Mangott. Doch sei es auch denkbar, dass der russische Machthaber Vergeltung sucht, indem er noch härtere Angriffe auf die Ukraine befiehlt.

Dass Russlands sonst – vor allem gegen die Opposition – so beflissen arbeitender Überwachungsapparat versagt hat, weil die Behörden die Warnungen aus den USA offenkundig ignoriert haben, will der Kreml nicht gelten lassen. "Keine Stadt, kein Land ist immun gegen Terrorismus", erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Zur Frage, ob die vier als Verdächtige vorgeführten Tadschiken gefoltert wurden, gab sich der sonst so wortgewaltige Kreml-Sprecher demonstrativ schmallippig: "Ich belasse diese Frage ohne Antwort."

Hyperschallraketen gegen Kiew

In der Ukraine greift die russische Armee derweil weiterhin Städte von der Luft aus an. Am Montag wurde einmal mehr die Hauptstadt Kiew angegriffen, laut der Kiewer US-Botschaft mit Hyperschallraketen. Bürgermeister Witali Klitschko zufolge wurden im zentralen Stadtbezirk Petschersk sieben Menschen verletzt. Im Zentrum waren gut ein halbes Dutzend Explosionen von Flugabwehrraketen zu hören gewesen. Der Luftalarm konnte nur wenige Sekunden vorher ausgelöst werden. Kampfdrohnen hatten zuvor zudem die Stromversorgung in den Gebieten Odessa und Mykolajiw in der Südukraine beschädigt. In Odessa fiel deswegen der Strom aus. (Florian Niederndorfer, 25.3.2024)